Andrea Helmuth

Andrea Helmuth

Karhorn Klettersteig 2015

Greenhorn am Karhorn

 

Ich hätte meine Bergstiefel wohlmöglich nie mehr aus den Katakomben des Kellers hochgeholt, wenn meine Tochter Natascha mich nicht auf die Idee gebracht hätte, mein geliebtes Skigebiet auch mal im Sommer zu besuchen und mich an einem Klettersteig zu versuchen. Ich setzte mich während des Telefonates auf die Couch und schloss die Augen. Bilder von purer Natur, schönen Bergen, fröhlichen Rindviechern, Kaiserschmarrn und Almdudler liefen in Gedanken vor mir ab. „Hallo Mama, bist du noch dran?“.

 

 

Es sollte schon ein richtiger Gipfel sein. Das Karhorn also. Schließlich bin ich körperlich fit, sportlich ambitioniert und besitze einen gewissen Leistungswillen, der nach Betätigung verlangt. Noch auf der Fahrt nach Lech schien es selbstverständlich, dass ich mir diese Gelegenheit nicht würde entgehen lassen. Im Übrigen hat man schon ganz andere Herausforderungen gemeistert. Am Sonntagvormittag schlüpfe ich in meine knöchelhohen Bergstiefel mit der Aufschrift „Alpin Extreme“. Ich bin bereit!

„Schon mal geklettert?“, fragt Stefan mit Vorarlberger Akzent und beginnt, quasi im Basecamp die Ausrüstung für mich zusammenzustellen. Helm, Handschuhe, Klettersteigset. Stefan: dunkler Teint und schwarze wirre Locken. Kletterlehrer, Bergführer, Freerider, Eigentümer des Alpincenter Lech und das Beste: er verkauft Glück. Die Besteigung meines ersten Gipfels beginnt mit dem Sessellift(!). Mit (Sonnen-) beheizter Sitzbank; wir sind schließlich in einem der exklusivsten Skigebiete der Welt. Der Lift surrt und irgendwie fehlen nur die Ski unter den Füßen. Keine Schlange am Lift und kein Schwärmen auf der Piste. Im Sommer geht’s entspannter zu. Von der Bergstation Steffisalp auf 1.884 Höhenmetern beginnt dann quasi das „Warm-up“.

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Für den Aufstieg zum Ostgrat des Klettersteigs nehmen wir uns eine Dreiviertelstunde Zeit, um uns Schritt für Schritt an die Höhe zu gewöhnen. Es hilft den Kreislauf in Schwung zu bringen und dem Muskelkater vom gestrigen Lecher Höhenhalbmarathon die Zähne zu zeigen.

Vor uns sind schon einige Klettersteigbegeher mit fruchtgummifarbenen Helmen in der Wand. „Da geht‘s hoch?“.

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Beeindruckend! Dass es sich bei dem Klettersteig des Schwierigkeitsgrades mit der Kategorie B bis C handelt ist mir ziemlich egal. Stefan, Himalaya und Expeditionserfahren, klettert vor mir her. Der ganze Körper ist gefordert und ich bin voll konzentriert. Dann lehne ich bäuchlings am nackten Felsen. Stefan spricht beruhigend zu mir. Lobt mich für jeden Schritt.

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Es erinnert mich gerade an meine Zahnärztin bei der Wurzelbehandlung. Ich muss schmunzeln und als ob Stefan mich verstanden hätte, nimmt er mich, so hoffe ich, endlich als vollwertiges Expeditionsmitglied an. Dutzende Male klicke ich die Metallhaken in die festinstallierten Drahtseile ein- und wieder aus.

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Ich ringe mit den zwei störrischen Karabinerhaken, die meine Versicherung auf dem Klettersteig bedeuten. Sonst ist alles fabelhaft. Zwischen dem Gestein leuchtet mein orangefarbener Helm wie ein Pylon der auf eine Gefahrenstelle aufmerksam macht. Für die beiden geländegängigen Kletterer, die mich nun endgültig überholen bin ich wohl provozierend langsam in der Wand unterwegs.

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Mein Gesicht ist vor Anstrengung verzerrt, die beiden sind entspannt bei der Arbeit. Schließlich wird das Gelände flacher und dann stehe ich auf dem 2.416 Meter hohen Gipfels des Karhorns. Dicht gedrängt sitzen die Kletterer am Gipfel; Menschen, die sich im Alltag wohl kaum begegnen würden. Sie machen Jause mit Speck- und Käsebrot, dem Frühstücksbüfett abgerungen und in „Guten Morgen“ Serviertenpapier gewickelt. Als einer der Männer aus seinem Rucksack eine rosa Packung der Manner-Kekse auspackt ist es um mich geschehen. Ich gehöre zur Generation der frühkindlich Traumatisierten, einer Zeit des Roten-Socken-Image und da gehörten die Neapolitaner Waffeln einfach mit in die Berge. Manche machen sich hier schon auf den Rückweg, müssen kapitulieren. Wenn erkennbar ist, dass die Fähigkeiten für ein sicheres Weiterklettern nicht ausreichen, empfehlen Bergführer wie Stefan ihren Kunden, es sein zulassen. Hinter dem Gipfelkreuz wartet die eigentliche Herausforderung; dort geht es erst richtig zur Sache.

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Der Wind säuselt. Henning sagt: „Prima.“ Stefan sagt nichts. Er blickt halb skeptisch, halb schelmisch auf uns Klettersteigaspiranten. Dann legt er sein Seil zurecht. Der Blick nach vorne lässt den Atem stocken. Weit unten liegt Lech. Höhenangst? Besser nicht!

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Meine erste Zweitausender-Expedition

Stefan und ich bilden eine Seilschaft, sind quasi als Tandem unterwegs. Ich muss mich nun auf ihn verlassen. Mein Herz schlägt schneller, der Puls steigt, die Atmung wird rascher. Ein Hormoncocktail, der Angst und Lust vermischt. Schnell merke ich den Unterschied der Schwierigkeitsgrade. Der 600 Meter weiter führende Westgrat-Klettersteig wird auf einmal schmal, schmaler und verwandelt sich von der Kategorie B-C in einen anspruchsvollen Klettersteig der Kategorie C-D der anfangs an seinem oberen Rand überquert werden muss.

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Es ist ein kleines Abenteuer, das die eigenen Grenzen wieder ein wenig verschiebt. Berg-dramatisch, wie inszeniert, ziehen dunkle Wolken am Himmel auf. Erinnerungen an die letzte Bettlektüren laufen in Slow-Motion in meinem Kopf ab: Leute, die bei Sonnenschein losgingen und oben in einen Hagel aus Eis kamen; die im Dunkeln den Weg nicht zurück fanden oder abstürzten… Jetzt nur nicht noch die Situation durch Schwarzmalerei verschärfen, sondern optimistisch bleiben.

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Ich bin zufrieden mit meiner Performance. Mit beiden Händen klammere ich mich am Stahlseil fest, die Füße drücken gegen den Fels oder suchen halt auf den in den Fels gebohrten Stahlstiften. Das Problem: Die Trittmöglichkeiten sind für eine einzige Schrittlänge zu weit auseinander. Zumindest wenn man unter 1.60 cm ist.

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Die fehlende Klettertechnik versuche ich mit Kraft auszugleichen. Mit dem Mut der Begeisterung hangle ich mich über abenteuerliche Drahtseilbrücken. Verlaufen? Hier oben nicht möglich. Das Stahlseil gibt den Weg vor.

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Bald merke ich: Klettern ist ein Ganzkörpertraining – für Körper und Geist. Ich spüre es mit allen Sinnen. Die Fingerspitzen fühlen den sonnenerwärmten Stein – scharfkantig, schraffiert oder glatt, die Ohren hören das monotone Atmen und das Klicken der Karabiner, die Augen entspannen beim Anblick des Bergpanoramas zur Valluga, dem Säntis und die Allgäuer Alpen. Eine lange Felsplatte mit Seilsicherung bildet den Ausstieg des Westgrates und damit den Beginn unseres „Cool-Downs“.

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Der Wanderweg der über den Südhang des Karhorns wieder zurück Richtung Wartherhornsattel führt rundet meine Erstbesteigung ab.

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Das Telefonat mit meiner Tochter begann mit einem Versprechen. Ich bin nun endgültig vom Bergvirus infiziert. War das Karhorn mein „Schicksalsberg“ und damit die Einstiegsdroge auf dem Weg in die Sucht nach mehr?