Andrea Helmuth

Andrea Helmuth

IRONMAN Lake Tahoe 2013

High Five

 

Nun ist es passiert, ich habe mein Ehrenwort gebrochen: Viermal IRONMAN ist genug, davon war ich fest überzeugt. An Plänen und Ideen hat es in den letzten Jahren nie gefehlt.  Noch ein letzter IRONMAN als sportliche Herausforderung zu meinem runden Geburtstag sollte es dann doch sein – aber gleich unter den härtesten Bedingungen? 

 

 

 

Think big

Amerika. Kalifornien. Die geheimnisvollen Mächte, die auch schon vor 150 Jahren Träume entfesselten halten bis heute an, nur die Träume und Ziele haben sich verändert. Ein Jahr ist es her, als ich, völlig verblendet, im Internet einem Werbetrailer für ein neues, nordamerikanisches Ereignis erliege. Gezeigt werden die Reize Kaliforniens, das Easygoing, dem Synonym für alles Neue und Fabelhafte. Neu ist auch der IRONMAN in Lake Tahoe. Das Kleingedruckte habe ich dabei wohl völlig übersehen, vielleicht auch übersehen wollen. Die IRONMAN Rennstrecke auf knapp 2000 Metern über N.N. gelegen und mit 1.900 Höhenmetern gespickt, führt durch ein Skigebiet der Sierra Nevada und verspricht im wahrsten Sinne des Wortes eine atemberaubende Landschaft. Think big:  Hier stößt meine Vorstellungskraft an Grenzen.  Dieser IRONMAN ist derzeit der höchstgelegene IRONMAN weltweit. Etwas jedoch haben alle IRONMAN-Veranstaltungen gemeinsam: Die Distanz! 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Rad fahren und 42,2 Kilometer Laufen.

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Die Startplätze sind derart begehrt, dass sie innerhalb von Stunden ausgebucht sind. Die Startgebühr lies meine Kreditkarte zwar erbleichen, dennoch war ich voller Vorfreude. Ja, es kribbelt wieder und von nun an war sie da, diese Gewissheit, dass die nächsten Monate mit ständigem Training verdammt hart werden würden. Grund  für die Zielstrebigkeit und die damit verbundene Bereitschaft zum Quälen, ist sicherlich ein hartnäckiges, unverwüstliches Gen in mir.

Zwölf Monate und viele Trainingskilometer später…

Nein, ich will nicht auswandern, auch wenn mein Gepäck danach aussieht. 23 kg wiegt die Radtasche, 100 € zahle ich dafür beim Check-In. Nach über 10 Stunden an Bord des A380 landen wir in den Vereinigten Staaten von Amerika. Bis hierhin lief alles gut, nun heist es Ausdauer bewahren und Anstehen am hinteren Ende der Emigrationschlange. Quälend langsam geht es voran.

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Endlich, ein netter  Sir von Homeland Security beäugt erst unsere Pässe und dann uns. Er verzieht keine Miene. Aber er will wissen, wie lange („ four weeks“) und außerdem warum und wohin wir reisen wollen. Ich erzähle ihm vom IRONMAN und Marathon in Lake Tahoe.  Natascha, meine Tochter, wird beim IRONMAN in Lake Tahoe als Volonteer und zu meiner Unterstützung dabei sein und dann, eine Woche später, selbst ihren ersten Marathon laufen. Dort, so hoffe ich, werde ich sie dann unterstützen können. „Good luck and have a safe trip“ wünscht er uns, nachdem er die Pässe überprüft, die Fingerabdrücke genommen und von jedem ein Foto gemacht hat.

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Endlich sind wir sind in Kalifornien angekommen. Nicht etwa in Hollywood oder an der Golden Gate Bridge, auch nicht in der Nähe des Napa Valley. Stoßstange klebt an Stoßstange, mehrspurig drängt sich Auto an Auto. Wir verlassen mit unserem Mietwagen San Francisco und haben nach zähen vier Stunden das Skigebiet um den Lake Tahoe erreicht. Mit zunehmender Höhe wird die Luft auch dünner. Mit dem Hauch einer Westernstadt ist Truckee der bestgeeignetste Ort zur Höhenanpassung, denn schlafen werden wir hier die nächsten sechs Tage auf  1.822 Metern über N.N. Bis zum ersten sportlichen Event liegen nun nur noch sechs Tage vor uns.

DCIM100GOPRO

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Nur noch zwei Tage

Die verpflichtende Wettkampfbesprechung findet in Squaw Valley statt. Squaw Valley ist eins von neun Skigebieten am nördlichen Ende des Lake Tahoe und war einst Austragungsort der Olympischen Spiele von 1960.

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Ich war noch gar nicht geboren als Heidi Biebl aus dem Allgäu die Goldmedaille in der Abfahrt und das „Traumpaar auf dem Eis“, Marika Kilius und Hans-Jürgen Bäumler, Silber für Deutschland holte. Jetzt ist das ehemalige Olympiadorf für die nächsten Tage das „Dorf der Triathleten“. Heute, am Freitag, ist es kalt jedoch strahlt die Sonne über die Berge auf den großen Platz mit den Messezelten, die unter anderem die Athletenregistrierung beherbergen.

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Mit dem Vorzeigen des Personalausweises erhalte ich meine Startnummer und mein Athletenarmband, eine rosafarbene Badekappe, die Wettkampfbedingungen und einen großen Rucksack – alles verbunden mit den besten Wünschen („good luck“) für den Race-Tag. Jetzt noch ausgiebig shoppen, besonders nach den Merchandise Artikeln der Marke IRONMAN. Gegen Abend sprengen die 2.700 Teilnehmer, Freunde und Angehörigen fast die Kapazität des großen Festzeltes. Keiner will die Pasta und den Salat beim Welcome-Dinner verpassen. Feierlich wird es, als die US-Amerikanische Nationalhymne live gesungen von der Bühne und aus Lautsprechern ertönt. Das Jahr 2013 bedeutet 35 Jahre IRONMAN. 1978 versuchten erstmals 15, nur männliche Starter, den ausdauerndsten Athleten unter sich in einem Nonstop-Wettbewerb aller drei Distanzen zu bestimmen.

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Heute Abend betritt der US-Amerikaner John Collins im Hawaiihemd und in kurzen Shorts die Bühne. Er hat graue Haare, blonde Augenbrauen und einen kleinen Bauch. Rein optisch könnte Collins auch in der amerikanischen Serie Dallas der achtziger Jahre mitgespielt haben. Wie sich herausstellt, war er 1978 U.S. Navy Commander und unter den ersten Teilnehmern des heutigen IRONMAN. Für das Rennrad bezahlte er 79 Dollar und 5 Dollar betrug die Startgebühr für den damaligen Wettkampf. Seine Zielzeit war über 20 Stunden und damit belegte er den 11. von 12 Plätzen. Drei Teilnehmer hatten das Ziel gar nicht erreicht. Heute gilt für alle IRONMAN Distanzen eine Cuttoff-Zeit von 17:00 Stunden und nur Frankfurt am Main als European  Championchip, hat eine Stunde weniger. Doch das ist eine andere Geschichte.

Zurück im Hier und Jetzt ist auch die Geschichte eines Teilnehmers interessant, der mit dem morgigen Rennen seinen 99. IRONMAN Wettkampf bestreitet und mitunter auch schon mal fünf in einem Monat (!) absolviert. Das Unterhaltungsprogramm geht zu Ende und die geladenen VIP´s verlassen das Zelt, denn nun wird es ernst: Die Wettkampfbesprechung beginnt und damit auch die Erklärung der Do´s and Dont’s des Wettkampftags.

Bären gesehen und Rehe getroffen

Keine Getränkeflaschen, Gels oder Riegel bei der Radabgabe über Nacht am Rad, denn die sind Leckerbissen für die Bären. Begreiflicherweise erhält jeder Teilnehmer daher mit den Startunterlagen auch fünf Plastikbeutel. In dem weißen, sogenannten Smoking-Beutel, verstaut man die Kleidung für nach dem Rennen, im roten die Bekleidung zum Radfahren und im blauen dann die Laufsachen. Alle Beutel, bis auf den weißen, werden bereits Samstag mit den Rädern abgegeben. Völlig neu und bis dato einmalig für ein IRONMAN weltweit, sind die zwei Extrabeutel.

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Hier als Special-Needs-Bag bezeichnet, müssen hierin die persönlichen Gels und Riegel eingepackt werden, da die Bären schlau und immer hungrig sind. Die Natur, die uns Athleten hier umgibt, ist eindringlich und trotz aller Zivilisation übermächtig. Zu nah die vielen, unüberschaubaren Flüsse und Seen, Berge und Wälder in denen Bären leben. Und tatsächlich ist uns Tage später so ein scheuer Schwarzbär auf den Serpentinen hinab zum Yosemite Nationalpark begegnet, als er direkt vor uns gemütlich die Straße überquerte. Einen Bären in freier Wildbahn zu sehen – so ein Zusammentreffen hat man im Leben nicht oft.

Noch ein Tag…

Der Lake Tahoe ist ein saphirblauer Gebirgssee und die Gebirgsketten der Sierra Nevada zählen zu den schönsten Ausflugszielen Kalifoniens. Hier am Nordufer des Sees spielt niemand um sein Glück. Wer hier wohnt, hat es längst gemacht. Hier oben ist alles anders, vornehmer, zurückhaltender, geschichtsträchtiger. Beim Rad-Check-In am Samstag beginnt das übliche Schaulaufen der durchtrainierten Athleten.

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Jedoch sieht man statt gebräunter Beine in knappen Shorts und verspiegelter Sonnenbrille im Haar fast jeden in langen Hosen, Regenjacken und Wollmützen. Galt bis vorgestern noch die Feuerwarnstufe hoch, so hat sich das über Nacht mit einem kräftigen Sturm schlagartig geändert. Es pfeift der Wind durch die Pinienwälder am Ufer, in der eisigen Brise auf dem Lake Tahoe fegt ein Kite-Surfer über die wilden Wellen.

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Kalifornien heißt nicht automatisch Sommer, Sonne, Sonnenschein: Es hört nicht auf zu regnen. Die schwarze Wand hat sich langsam erst über den See und dann über den ganzen Himmel verteilt.

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Die Räder triefen vor Nässe, die Laufbeutel liegen in den Pfützen und die Stimmung ist alles andere als auf einen IRONMAN eingestellt. Was ich mich nun schon den ganzen Tag frage: Was und wie viele Lagen Kleidung ziehe ich morgen an und was mache ich, wenn es ein paar Stunden später erst wieder warm aber mit dem Einbruch der Dunkelheit wieder kalt wird?

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Der Abend davor

Wie das Wetterleuchten in der Nacht spüre ich die Herzrhythmusstörungen die mich seit einigen Jahren begleiten. Sport stählt das Herz und der Ruhepuls sinkt. Für mich jedoch eine Tatsache mit Folgen: Mein Couch-Herzschlag fällt in Ruhe auf knapp 40 Schläge pro Minute – zu wenig nach dem Ermessen der Kardiologen. Es bleiben quälende Fragen über das Für und Wider einer solch sportlichen Herausforderung. Ich lausche dem gleichmäßigen Tropfen des Wasserhahnes im Bad. Immer wieder schaue ich auf die Uhr, an Schlaf ist nicht mehr zu denken. „Warum um Himmels Willen tue ich mir das an“, denke ich und versuche das was in den kommenden Stunden  auf mich zukommt zu verdrängen. Die Nacht ist kurz und bitterkalt. Immer wieder wache ich im Kingsize-Bett auf und falle wieder zurück in einen dünnen Schlaf. Seit Monaten träume ich immer wieder von diesem Wettkampf. Und nun soll mein Traum am schlechten Wetter scheitern? Unmöglich! Raus aus dem warmen Bett und bereits im Hotel rein in den Neoprenanzug. Zentimeter für Zentimeter schiebe ich mich in die teure und hier fast schon überlebenswichtige, enge  Rettungshaut. An dieser Stelle herzlichen Dank an meine Mutter, die mir diesen neuen Neopren sponserte. Darüber ziehe ich eine lange Hose, dicke Socken, zwei Pullis, Wollmütze und Handschuhe.

Bis auf einen Kaffee fällt das Frühstück heute aus, es geht mir schlecht. Es ist 3:00 Uhr in der Frühe und ich fühle mich müde und jämmerlich. Es klopft permanent gegen meine Schädeldecke. Zudem habe ich Herzklopfen – und nicht nur wegen der Höhe oder der Aufregung.

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Es ist vier Uhr, also noch weit vor dem Morgengrauen, das Thermometer zeigt zwei Grad unter null – aber es hat aufgehört zu regnen. Ein halbes Dutzend der  typischen gelben Schulbusse stehen in Squaw Valley bereit, um die Athleten und Zuschauer zum Startbereich in Kings Beach zu bringen. Dicht gedrängt sitzen auch die anderen ebenfalls dick eingepackten noch müden Frauen und Männer im Bus als gingen sie zum Skilaufen.  Durch das Fenster fallen ein paar fahle Streifen der Straßenlaternen und Leuchtreklamen der geschlossenen Lokale vom Straßenrand in den Bus. Eine dösende halbe Stunde später ist der Bus am Schwimmstart in Kings Beach angekommen und ich bin mit einem Schlag hellwach. Grelle Scheinwerfer erleuchten den Athletenbereich.

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Bevor ich weiß was mit mir geschieht, zupft mir jemand am Hosenbein und fragt mich: „What is your age group?“ und schon habe ich ein schwarzes Bodymarking mit garantiert langer Haftungsdauer auf meine Wade erhalten. Und als ob dies noch nicht genügt, bekomme ich zusätzlich dazu auch noch meine Startnummer auf den Oberarm gemalt. Soweit das Auge reicht stehen hier die Rennräder. Ich bestaune ein besonders stolzes Karbonross. Glänzte früher das Fell der Tiere, funkeln heute Regentropfen auf den teuren Rennboliden. Zwischen den filigranen Rennmaschinen, wirkt mein vor Nässe triefendes Rad wie ein Präriepanzer.

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Die Eigentümer werfen sich in Pose, eitel wie so mancher Hollywoodstar lassen sie sich es auch was kosten.
Das Rad, ein glamouröses Etwas, als schmückende Ergänzung und Objekt der Begierde haben manche gerne einen fünfstelligen Betrag auf den Tisch gelegt. Dennoch gibt es hier keine schützenden und sonst üblichen Plastikabdeckungen gegen den Regen. Mein Rad gleicht gegen die hier aufgefahrenen Rennmaschinen eher einem amerikanischen SUV, also einem sportlichen Nutzfahrzeug. Mein kleiner Italiener ist mit mir in die Jahre gekommen, hat mit mir gelitten, ist auch schon mal in die Ecke geflogen und hat mich trotzdem nie im Stich gelassen. Denn wie viele Helden gibt es, die von der Grausamkeit eines IRONMANs erzählen, von zerplatzten (Reifen-) Träumen und nicht erfüllten (Hawaii-) Zielen. Was nutzt am Ende das beste und teuerste Material, wenn der Körper nicht mehr will? Die Brutalität eines IRONMAN-Wettkampfes zeigt sich erst beim Marathon, nämlich dann, wenn es kein Material mehr zu zeigen gibt.

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Der Lake Tahoe liegt noch im Dunklen und die Bojen, die die Schwimmstrecke kennzeichnen sollen, hat der dichte Nebel verschluckt. Gleich beginnt am nördlichen Teil des Sees der Schwimmstart. Den Kopf bedecke ich gleich mit zwei Schichten Latex. Wie immer wenn ich starte, ist die offizielle Bademützenfarbe für die Damen knallpink und für die Herren giftgrün.
Noch zehn Minuten…

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“Ten minutes” ertönt aus einem Lautsprecher; der Startschuss für die Profis ist gefallen. Die 2.700 Altersklassen-Ausdauerenthusiasten bewegen sich traubenförmig zum Strand. Der jüngste ist gerade einmal 21 Jahre alt, die ältesten Athleten sind aus den 1940er Jahren. Nie zuvor gab es mehr weibliche Teilnehmer bei einem IRONMAN und auch die Teilnehmerzahl der Damen in meiner Altersklasse sprengt jede Vorstellung von durchtrainierten Ladys jenseits der 50. Auf 17 gemeldete Damen beim diesjährigen Frankfurt IRONMAN kommen hier gewaltige 98 (!). Konkurrentinnen? Nein, nicht hier, nicht bei diesen Bedingungen. Jeder ringt hier nur gegen sich selbst; hier zählt allein der olympische Gedanke.

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Da frieren selbst die Profis

Sehr groß, sehr tief, sehr ruhig, sehr neblig, sehr schön und sehr, sehr kalt! Gewaltige, teils schneebedeckte Bergketten rahmen den an der Grenze zwischen Kalifornien und Nevada gelegenen Hochgebirgssee Lake Tahoe. Der See ist etwa 15 km² größer als der Bodensee und der zweittiefste See der Vereinigten Staaten. Aber nicht nur seine Tiefe ist beeindruckend. Man erzählt sich, er sei so kalt, das selbst die Cowboys, die vor über einem Jahrhundert in dem 500 Meter tiefen See ertranken, in gut erhaltenem Zustand noch heute geborgen werden können.

Das Wasser bewegt sich kaum, die Wendeboje ist in dem aufsteigenden Dunst kaum zu erkennen,  als würde der See etwas verschleiern und vor uns verhüllen. Der Anblick des weiten Sees, erzeugt eine ganz eigene Stimmung die mir gehörig Respekt einflößt. Auf 1.899 Meter über N.N. gelegen, ist er auch einer der höchstgelegensten Seen der USA. Zu der Kälte erschwert dieser Umstand ebenfalls das Schwimmen; schnell gerät man in solchen Höhen außer Atem. Da ist es gut zu wissen, dass man die Distanz beherrscht.

Wellenstart statt Massenstart

In der Vergangenheit gab es immer wieder Todesfälle während der Schwimmdistanz bei IRONMAN Wettkämpfen. Grund für die World Triathlon Corporation (WTC) erstmals in diesem Jahr, bei nordamerikanischen Schwimmstarts, das Reglement zu ändern. Die Bojen, die es entlang zu schwimmen gilt, sind nummeriert und fest verankert, darüber hinaus sind noch mehr Rettungsboote und Wasserfahrzeuge auf der Strecke. Man sagt:  „Es gibt nur zwei Typen von Triathleten, die im Wasser keine Prügel beziehen, der Führende und der Letzte.“ Vielleicht auch ein Grund sich gegen einen Massenstart und für einen sogenannten „Rolling-Start“ zu entscheiden? „Rolling-Start“ bedeutet, die Zeitnahme startet für jeden Athleten separat – und zwar erst in dem Moment, wenn er die Zeitmesslatte überschreitet.

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Es ist ein Morgen wie aus dem Bilderbuch. 6:28 Uhr, die Nationalhymne ertönt, wieder einmal live gesungen durch die Lautsprecher und es herrscht kurzzeitig Stille unter den angespannten Athleten. Die Atmosphäre ist unruhig. Der Startschuss rückt immer näher. Noch bevor die Morgensonne über die Kiefernwipfel der Sierra Nevada richtig aufgegangen ist, fällt der fast schon erlösende Startschuss und für uns alle beginnen Stunden der Ungewissheit. Der Schauder dieses Momentes ist einzigartig. Die Traube der Athleten schiebt sich langsam Richtung Starttor bis vor ans Wasser. Erst in letzter Sekunde streift jeder seine Socken, Flip-Flops oder Hotelbadeschuhe ab, sie hielten wenigstens bis zum Start die Füße etwas warm, denn auch der Sand des Strandes ist eiskalt.

Eismeerschwimmerin

Ich drücke Natascha wie zum Abschied. Es gibt nicht mehr viel zu sagen. Ich hole nochmal Luft. Das kalte Wasser ist wie ein Weckruf für meine Blutkörperchen. Ganz langsam läuft das Wasser in den Neopren, kühlt kurze Zeit die Emotionen. Die Zeit läuft. Wir schwimmen zwei Runden gegen den Uhrzeigersinn. Am Rande des Sees jubeln die  Zuschauer, Sponsoren, Helfer. Brustschwimmend wage ich die ersten Züge, traue mich nicht das Gesicht in das kalte Wasser zu tauchen. Endlich kreiseln zaghaft meine Arme durch das Wasser,  ich habe Angst keine Luft zu bekommen, will einfach nur heil durchkommen. Trotz der Kälte fange ich an es zu genießen. Verzaubernder als die aus dem Nebelmeer steigende und schneebedeckte Bergkette der Sierra Nevada kann ein Bild von dieser Welt nicht sein.

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Das erste Sonnenlicht trifft auf das Weiß des Nachtfrosts. Es vergoldet augenscheinlich die noch vor mir liegenden Bojen  – zumindest einen Augenblick lang. Der Rücken wird leicht erwärmt von der Sonne und ich sehe, wie das Wasser unter mir tiefer und ich spüre, wie der See kälter wird. Bei diesem Unterwasserfernblick dürfte jeder Goldfisch im Glas verrückt werden. Nicht hetzen, sich mitziehen lassen wie ein Stück Treibholz – das hatte ich mir vorgenommen. Dunst steigt aus dem Wasser empor, nicht nur der Wind kräuselt die Wasseroberfläche. Unter Wasser wirken die Triathleten in ihren schwarzen Neoprenanzügen wie ein aufgeschreckter Fischschwarm. Über Wasser schlagen die muskulösen Ausdauerenthusiasten mit ihren starken Arm- und Beinschlägen alles nieder – auch Treibholz! Mutig versuche ich mich so schnell als möglich in das Gewimmel der zuckenden Meerestiere einzufügen und um sozusagen in deren Kielwasser zügig und trotzdem sicher voranzukommen. Immer wieder hebe ich den Kopf und peile ich die Silhouette der nächsten Boje an, die allmählich näher kommt und bald habe ich die Hälfte der Strecke geschafft.

Land in Sicht

Ich kann durch meine Schwimmbrille beobachten, wie ein Schwimmer aus dem Wasser auf ein Boot gezogen wird. Mir schießt das Adrenalin ins Blut. Klar, jeder hat seine Tiefpunkte: Augenblicke, in denen man sich fragt, was um Himmels willen man hier eigentlich macht. Zum Glück habe ich bald meinen Rhythmus gefunden, kann es endlich genießen – das Gefühl, das alle Langstreckenschwimmer an diesem Sport so lieben: Die unbegrenzte Weite, das Schwimmen in der Natur, ohne Beckenränder oder schwarze Linien am Schwimmbadboden, sondern nur das klare Wasser unter mir, hier verwischt die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit. Ich denke an die vielen Trainingsstunden. Klatsch, schon hat mich die Realität eingeholt.

Stilperfektionismus oder Eintauchwinkel sind mir heute egal, die Arme werden schwer. Es hört nicht auf, es geht immer weiter so. Über immer gleiche Wellen und Falten. Noch sind etwa fünfhundert Meter zu schwimmen. Das Ufer kommt näher.

Crashtest Dummies

So schön der See auch ist, jeder ist heute bemüht so schnell als möglich wieder aus ihm herauszukommen. Nach und nach erreicht einer nach dem anderen das Seeufer. Nach 1:28 Stunden und damit auf Platz 43 meiner Altersklasse habe auch ich wieder festen Boden unter den Füßen. Ich renne zur Wechselzone und suche meinen Radbeutel.  Ohne die Helfer würde man im Chaos der tausend Kleiderbeutel untergehen. Rasch bekomme ich meinen Beutel mit den Radsachen darin in die Hand gedrückt und laufe in Richtung Wechselzelt. Noch bevor ich reagieren kann, zerren zwei andere Helfer an mir. Sie streifen mir den Neoprenanzug ab wie eine Schlangenhaut. Gehäutet und zitternd vor Kälte versuche ich ein paar Zentimeter Platz in dem  überfüllten und dunklen Wechselzelt zu erhaschen. Jedoch keine Chance auf einen Sitzplatz.

Völlig fassungslos betrachte ich das Wuseln und Treiben und versuche drei Schichten eng anliegende Kleidungsstücke über den feuchten Körper zu ziehen. Schon zieht und zerrt es wieder an mir. Die Helferinnen bemühen sich, jedem möglichst schnell in sein Trikot zu helfen. Die Kleidung ist kalt und klamm. Sie lag die ganze Nacht auf dem regennassen Boden, die Schnur daran ist über Nacht vereist. Zum Glück habe ich in die Tüte noch eine Tüte gesteckt und so hat meine Kleidung die Nacht trocken überstanden.

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Beim Triathlon gilt: Wer morgens seinen Einteiler angezogen hat, kommt bis abends nicht mehr aus ihm heraus – aber nicht hier: Hier und heute ist alles aufwendiger und die Zeit läuft und läuft. Meine eiskalten, steifen Finger sind keines Gefühls mehr fähig. Noch immer kraulen viele gleichförmig durch das kalte Gewässer. Nicht wenige unter ihnen sind, wegen der Kälte bereits hier auf der Strecke geblieben. Bis dann endlich meine Schuhplatten in die Pedale klicken sind unglaubliche 18 Minuten (!) vergangen. Zum Vergleich, in den vergangenen Jahren habe ich in Frankfurt in der ersten Wechselzone immer nur knapp 6 Minuten gebraucht.

Up, up and away

Über leichte Hügel gleite ich Richtung Westen über neun Meilen bis nach Tahoe City immer am See entlang. Er ist von hohen Gipfeln voller weißem Pulverschnee und tiefgrünen rauschenden Wäldern umgeben. Die besonders tiefblaue Farbe des Wassers begeistert mich, auch wenn unter dem Helm noch immer das Seewasser unangenehm aus dem klatschnassen Pferdeschwanz über meinen Rücken tropft. Sanft steigt die Strecke in die erste Kurve.

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Nur ganz langsam werde ich warm. Ständig bin ich damit beschäftigt meinen körperlichen Zustand zu kontrollieren. Pulszone, Atmung und Ernährung. Die Powerbarriegel sind eiskalt und steinhart und bei jedem Biss habe ich Angst mir einen Zahn abzubrechen. Am Highway 89 blitzt gelegentlich der Truckee River durch die Büsche und Bäume. Locker rolle ich in die hundertvierzig Jahre alte Kleinstadt Truckee.  Gegründet wurde der Ort als Vorposten der Central Pacific Railroad, der Hauptachse von Küste zu Küste. Berühmt wurde er als Drehort von Filmen wie Charlie Chaplins „Goldrausch“ oder James Camerons „True Lies“ mit dem ehemaligen Gouverneur Kaliforniens Arnold Schwarzenegger. Wie im Wilden Westen stehen die Holzhäuser aus dem neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert am Straßenrand Spalier. Nach 36 Meilen geht es in die Berge und mit der Gemütlichkeit ist es zwar jetzt vorbei, aber dennoch kann ich ständig überholen.

Geschlossene Gesellschaft (North Star)

Ich bin auf dem Northstar Drive.  Der Aufstieg auf den Gipfel des Nobelskigebietes Northstar California hat ungefähr den gleichen Anstieg wie der zum Brockway Summit, der  den höchste Punkt der Radstrecke markiert. Die Fahrt auf den Gipfel ist ein willkommener Moment, die geschundenen Sitzknochen aus dem harten Sattel zu heben. Die Atemzüge werden lauter. Ich versuche die Drehzahl gleichmäßig zu halten und meine Atmung zu normalisieren. Die wärmer werdende Luft duftet jetzt nach Pinien. Nirgendwo ein Bürgersteig, nicht mal einen einzigen Fußgängerüberweg und von den Laternenpfosten grinsen keine Gesichter von den großformatigen Wahlplakaten des heute um neun Stunden versetzten Bundestagswahlkampfes im weit entfernten Deutschland. Auf 6.800 feet (2072 HM über N.N.) unterfahren wir die Northstar Gondel.

Eine Fahrradklingel hat hier keiner – aber auch kein Mitleid. Denn leiden muss hier jeder. Ich bin nur auf meine Oberschenkel fokussiert – alles andere blende ich konsequent aus. Ich schalte in den kleinsten Gang, nutze den dritten Kranz, den sogenannten Rettungsring. Das Tempo nach zehn Minuten: Ganze neun Stundenkilometer. Mein Herz schlägt kräftig. Dann, endlich oben. Atemlose Erleichterung. Ich bin von dem fantastischen Blick ins Tal überwältigt.

Am zweiten Pass wirft es mich im wahrsten Sinn des Wortes dann fast doch noch aus dem Sattel und zwar vor Staunen. Vor mir arbeitet sich ein durchtrainiert aussehender Triathlet mit kleinem Schädel und großen Aerohelm auf seiner Triathlon-Rennmaschine mit Scheibenrad den Berg hoch und lässt sich kampflos von mir überholen. Dann (kreisch!!!) befinde ich mich am Fuß des 7209 feet (2.197 Meter über N.N.) hohen Brockway Summit. Dort oben hat es gestern noch geschneit! Mein Wille kann mit dem Aufstieg fertig werden, aber wissen das auch meine Beine?

Im kleinsten Gang pedalliere ich gen Himmel, Durchschnittsgeschwindigkeit 8,9 km/h oder so. Ich tanke die Luft der Sierra Nevada. Trinke und esse. Was das betrifft ist die Sache einfach. Jede Stunde immer ungefähr das Gleiche: Einen Riegel oder ein Gel, dazu ein Powerbar Getränk oder auch mal eine Flasche Wasser. Anspruchsvoll sollte man nicht sein. Ist man erst einmal hungrig oder durstig ist es meist zu spät.

Für Fahrzeuge ist die Straße in unsere Fahrtrichtung gesperrt. Auf der Gegenfahrbahn betrachte ich Wohnmobile so groß wie Reisebusse und dazu an der Anhängerkupplung ein Boot oder Geländewagen.  Der aufmunternde Gruß eines Fahrers reist mich aus meiner Gedankenwelt, ich beeile mich ihn zu erwidern. Schließlich ist auch der letzte Gipfel erreicht und der eigene Kampf mit der Schwerkraft ist bewältigt. Die Kette surrt, die Landschaft fliegt vorbei, endlich geht es wieder abwärts. Ich lege mich auf den Vorbau meines Lenkers und bestimmt klatschen schon die Mücken gegen meinen Helm; der Wind rauscht durch meine Ohren als ich mit mehr als 60 km/h drei Meilen downhill rase!!! Die erste Runde ist geschafft.

Die letzten vierzig Meilen der zweiten Runde bis zum Ziel empfinde ich wie Hundert und sie werden zur Tortur – die Willenskraft schon wieder auf eine harte Probe gestellt. Schon wieder bin ich am letzten Anstieg dazu verdammt mit zehn oder maximal elf Stundenkilometer dahin zu kriechen. Kopf und Blick gesenkt um mir den Anblick des Anstiegs der vor mir liegt zu ersparen. Ich japse in der dünnen Luft, Reden ist nicht möglich – mit wem auch? Wind, Berge, dünne Luft geben ein dramatisches Trio ab. Jetzt wäre ich froh nur einen dieser Gegner zu haben, jede Meile fällt mir doppelt schwer. Sie schenken mir keinen einzigen Yard, kennen keine Barmherzigkeit. Der Wind peitscht mir entgegen, fegt den Staub von der Straße mir in den Mund. Dennoch bin ich überrascht, weder das Herz rast, noch der Puls tobt. Lediglich im Hinterteil plagt mich ein stechender Schmerz und die Füße brennen unerträglich. Der Gegenwind bläst mir so hefig entgegen als wolle er mich von der Straße schieben oder über die Grenze nach Nevada fegen.

Schnaufend überholt mich ein Prachtexemplar eines Südstaatlers. Er grinst herausfordernd. Ich trete und trete und komme doch nicht voran. Schutz hinter dem breiten Rücken des Südstaatlers zu suchen ist anziehend, aber verboten.

Wechselzone in Squaw Valley

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Am Ortseingang von Squaw Valley lodern zwei ewige olympische Feuer. Die schöne und spektakuläre Radstrecke im Skigebiet Kaliforniens habe ich jetzt überstanden. Ich nähere mich der Wechselzone, biege um die Ecke, die Kurbel ächzt ein letztes Mal. Wie ein erschöpftes, sich dahinschleppendes Bündel, am Rande seiner Kraft, bleibe ich nach 7:34 Stunden und mittlerweile Platz 17 in der AK stehen; ich habe wieder Boden unter den Füßen.

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Nach 3,8 Kilometern schwimmen und 180 Kilometern Radfahren ist das hier erst der Anfang. Der Anfang eines Marathonlaufes. Mein Wille könnte mit dem noch vor mir liegenden Marathon fertig werden, aber was ist mit meinem Körper? Der ist das Problem! Ich bin erschöpft, die 1.900 Höhenmeter in der dünnen Luft haben Kraft gekostet. Steif schleppe ich mich ins Wechselzelt, ein Volonteer reicht mir meinen Lauf-Beutel. Meine Füße schmerzen. In dem Zelt sind genügend Sitzplätze – endlich ausruhen. Ein anderer Volonteer leert mir meinen Laufbeutel vor meinen Füßen aus. Meine Dose Espresso rollt heraus. Ich genieße diesen kurzen Augenblick der Rast und trinke gierig meinen Espresso. Welch eine flüssige Erlösung der bereits vergangenen Stunden.

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Ich stehe auf, laufe langsam an, was sonst? Was folgt ist ein stundenlanger Dauerlauf – bestenfalls. Die Strecke führt über zwei Runden direkt durch den Ortskern von Squaw Valley und gleich darauf links gleich zweimal am Ziel vorbei.  Zuschauer toben.

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Gehwütig beginne ich die ersten Meter über die Squaw Valley Road und dem Highway 89. Von diesem Teil der Strecke kann ich sehen das noch immer nicht alle Athleten vom Radfahren auf das Laufen gewechselt haben. Für einige könnte es nun tatsächlich knapp werden, denn wer diesen Wechsel nach 11 Stunden nicht geschafft hat, muss hier das Rennen beenden.

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Bereits nach 1,5 Meilen ist auch schon die erste Verpflegung erreicht. Auf den Tischen liegen Gels, Gebäck, Obst, gefolgt von Wasser, Iso, Cola oder Hühnerbrühe. Das also muss man unter dem Begriff Fast-Food-Kette verstehen. Ich habe mit meinem Magen und meinem Kreislauf zu kämpfen.

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Verfalle nach und nach in eine schonendere Gangart. 6 Meilen führt die Strecke entlang des Truckee River der den Lake Tahoe über 60 Bach- und Flussläufe entwässert.  Fast schnurrgerade verläuft die Strecke durch gleichförmige Kiefern, die sich träumerisch im Wind wiegen. Es folgt eine 180-Grad Kurve und der Weg führt auf gleicher Strecke zurück. Den ganzen Tag schon beobachte ich das Licht, wie es sich verändert, wie es weich wird, wie es den Asphalt brennen lässt und jetzt meinen Schatten lange vor sich her treibt. Ich kann in die Gesichter der entgegenkommenden Läufer schauen. Müdigkeit und Schmerz sind hinter dunklen Sonnenbrillen oder einer tief in die Augen geschobenen Cap verborgen. So manch einem gelingt diese Tarnung. Sämtliche Duelle sind ausgetragen – jeder will nur noch das Ziel erreichen.

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Wieder im Ortskern von Squaw Valley muss ich noch einmal links am Ziel vorbei laufen. Andere haben bereits den Zielkanal erreicht. Für die gaffende Meute ist das hier ein Schauspiel, sie wollen hier die leiden(!)schaftlichen Athleten sehen. Ein letztes Mal geht es auf dem Radweg am Truckee River entlang, diesmal ist die Runde jedoch kürzer. Jetzt fallen die kalten, harten Schatten auf die Laufstrecke und die Luft wird kälter.

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Irgendwie mache ich mir leichtsinnigerweise noch keine Gedanken über die drohende Dunkelheit, was sich später noch rächen sollte. Die steif gefrorenen Finger fest um einen Pappbecher mit heißer Hühnerbrühe (chicken broth) geklammert, laufe ich langsam weiter.

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Erneut folgt eine 180-Grad Kurve und die Strecke führt auch gleichen Weg, mittlerweile tatsächlich wie durch eine finstere Nacht, durch den Wald. Jeder der jetzt noch unterwegs ist flimmert fahl. Der Weg vor mir ist spärlich beleuchtet. Endlich kommt mir Natascha entgegen. Sie schießt ein paar Bilder und wir wechseln nur ein paar Worte. Etwa vier Kilometer liegen noch vor mir, jede Einzelne will erfüllt werden bis auf den letzten Schritt. Der Schritt für den man das hier alles auf sich nimmt, der einen weiterlaufen lässt, auch wenn man schon lange nicht mehr kann.

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Kurz vor dem Ziel bremse ich ab, meine Zielzeit von 14:27:04 leuchtet  mir entgegen. Ich laufe ganz langsam und gehe die letzten Schritte bis ins Ziel. 14:27:06 – niemals vorher war ich so lange bei einem IRONMAN unterwegs. Platzierungen und Zielzeiten sind für die meisten nur noch Nebensache. Die Athletinnen und Athleten in den jeweiligen Altersklassen, gelten wie ich, als absolut chancenlos.  Denn bei diesem Rennen dürfen nur die allerschnellsten Damen und Herren auch nur im Ansatz über eine Qualifikation für Hawaii nachdenken. In meiner Altersklasse zum Beispiel gibt es nur einen Qualifikationsplatz. Mein Ziel war es, im Mittelfeld meiner Altersklasse zu finishen. Mehr als nur ein Hurra-Effekt macht sich beim Blick auf die Ergebnisliste bemerkbar. Als 376 Frau aus dem Wasser gestiegen und als 172. Frau das Rennen beendet, das heißt Platz 10 von 98 gestarteten Frauen in meiner Altersklasse und dennoch zu langsam für Hawaii! Fluch oder Segen? In Anbetracht der reinen Startgebühr von 825,00 US Dollar bin ich nicht wirklich traurig.

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DONE! Fertig, geschafft!

Im Ziel wartet schon Natascha mit einer wärmenden Alufolie auf mich. Tränen der Freude, entkräftete Umarmungen, erschöpfte, doch glückliche Gesichter, wohin man blickt. Hier in Squaw Valley erlebe ich meinen eigenen amerikanischen Traum. Ich bekomme das schwere IRONMAN-Metall um den Hals gelegt. Das IRONMAN-Logo beleuchtet den 2.749 Meter hohen „Granite Chief“. Niemand kann an diesem Abend den Glanz in den Gesichtern übersehen. Erschöpfung gemischt mit Stolz. Stolz, durchgehalten und das Ziel erreicht zu haben. Zittert vor Kälte schicke auch ich ein Stoßgebet gen Himmel, dankbar darüber, dass ich im See nicht erfroren bin und mich mein altes Rad gut über die Strecke gebracht hat. Denn für manch einen platzte der Traum vom IRONMAN so schnell, wie ein Reifen am Rennrad oder der Cutt-off des Veranstalters.

20 % Ausfallquote

Die durchschnittliche Zielzeit betrug 14 Stunden und 6 Minuten, wobei 20% der Athleten nicht das Rennen beendeten. Das DNF beim Radfahren betrug 12% und das DNF beim Laufen 8%. Jeder Athlet hatte zu den eisigen Temperaturen auch mit der Höhenluft und der mit knackigen  Höhenmetern gespickten Radstrecke zu kämpfen. Ist das der Grund für die zweithöchste DNF-Rate weltweit? Am nächsten Tag ist der IRONMAN schon wieder Geschichte. Mir geht es richtig gut und ich habe tatsächlich kaum merklichen Muskelkater.
Jetzt heißt es Koffer packen und weiterfahren zum Wandern oder auch Regenerieren in den Yosemite Nationalpark, denn bereits sieben Tage später, möchte ich gemeinsam mit meiner Tochter Natascha an der Marathon-Startlinie im Süden des Lake Tahoe stehen um gemeinsam mit ihr durch das Ziel ihres ersten Marathons zu laufen.

Angemerkt: Was ich zu meinen nächsten runden Geburtstag  mache? Vielleicht noch einmal einen IRONMAN? Nein, bestimmt nicht, Ehrenwort! Aber man darf doch mal Träumen…

 

Fotos: Natascha Sambach