Andrea Helmuth

Andrea Helmuth

IRONMAN World Championship St. George, Utah 2021

A special invitation to you, Andrea!

 

Ding! – Diese E-Mail in meinem Postfach offerierte mir Ende Februar ein ungeahntes IRONMAN Abenteuer. Und was für eines!

 

 

 

 

 

 

Utah statt Hawaii

Zum ersten Mal seit der Premiere im Jahr 1978 findet die Ironman-Weltmeisterschaft nicht auf Hawaii statt. KREISCH! Ein Aufschrei geht durch die Community und so wird in manchen Facebook-, Instagram und WhatsApp-Gruppen schonungslos und ausgiebig diskutiert. Hintergrund: Die Ironman Weltmeisterschaft auf Hawaii fiel 2020 und 2021 wegen der Corona-Pandemie aus. Daher wurde entschieden, die Weltmeisterschaft 2021 nun einmalig in das Jahr 2022 nach St. George im US-Bundesstaat Utah zu verschieben. „Geht gar nicht“, oder Aussagen wie: „nur Hawaii ist einer IRONMAN Weltmeisterschaft würdig“ und so weiter und so weiter. Als qualifizierter Athlet konnte man sich im vergangenen Jahr einmalig aussuchen, an welchem der beiden Austragungsorte man starten wollte; in Utah oder auf Hawaii. Der Großteil der Qualifizierten hat sich für den Mythos Hawaii entschieden.

Qualifikation IRONMAN Weltmeisterschaft 2021

Was geht das mich an? „Nicht viel“, hätte ich gesagt, „soll sich doch jeder seine eigenen Gedanken machen“. Bis zu diesem Abend, dem 24. Februar 2022, als ich von den schrecklichen Nachrichten der russischen Invasion auf die Ukraine erfahren habe und am gleichen Abend in meinem E-Mail-Postfach plötzlich diese Mail von IRONMAN All World Athlete, mit dem Betreff: „A special invitation to you, Andrea!“ erhielt.

Ungläubig überfliege ich diese Zeilen (Auszug):
This year IRONMAN […][…] Andrea, as you were a Silver All World Athlete (AWA) in 2021, we invite you to accept a slot and join us at the 2021 IRONMAN World Championship presented by Utah Sports Commission on May 7, 2022. If you wish to accept this opportunity and be part of the first-ever IRONMAN World Championship held outside of Hawai`i, your unique link will take you to the registration page where you may purchase your race entry.

Allein die Worte: IRONMAN World Championship lösen etwas in meinem Gehirn aus. Aber wer mich nur ein wenig kennt, der weiß, „first-ever“ das ist meine Wortkombination! Ich liebe Events, die quasi Prämieren sind und wie in diesem Fall, höchstwahrscheinlich sogar einmalige.

Und weiter lese ich: Please note, there are a strictly limited amount of slots, and they are available on a first come, first served basis.

Aber nicht nur ich habe diese Einladung erhalten. Jeder (AWA) Gold- und Silber-Athlet wurde angeschrieben, um damit die Gesamtzahl der Anmeldungen für die WM in Utah zu erhöhen. Um den Status eines AWA Gold-, Silber- oder Bronze-Athlet zu bekommen, werden die Platzierungen der Rennen innerhalb eines Jahres mittels eines Punktesystems zusammengezogen. Meinen Silber-Status hatte ich durch Platzierungen 4. Platz AK in Frankfurt, 3. Platz AK in Whistler (Canada) und mit der Teilnahme an der 70.3 (Mitteldistanz) Weltmeisterschaft in Nizza (Frankreich) erzielt.

Für mich ist das der Jackpot. Ich bin wie angeknipst und freue mich wahnsinnig. Was soll ich sagen, keine 10 Minuten später sind die mehr als 1.000 US-Dollar von meinem Konto abgebucht und damit mein Startplatz gesichert. Mein Herz klopft. Ich starte bei der IRONMAN WELTMEISTERSCHAFT, wie verrückt ist das denn bitte?

Das Ziel ist klar: Ins Ziel kommen!

Doch dann kommen die Fragen: Kann ich meinen bereits geplanten Jahresurlaub noch umbuchen und spielen meine Kollegen mit? Kann ich das fehlende Training in so kurzer Zeit noch aufholen? Ich rechne durch: 24.02. bis 07.05. das sind nur 12 Wochen! Bevor ich also so richtig in die Phase des Langdistanz-Trainings, also die, die so richtig wehtut, einsteigen kann, muss ich auch schon wieder tapern, also runterfahren und erholen. Na klar bin ich im Training, aber bisher war das nur reine Grundlage. Der Wettkampf, für den ich mich vorbereite, findet fast zwei Monate später statt. Aber hey, was sollen die Fragen, ich habe ja schließlich eine Menge Erfahrung im Ausdauersport. Aber wird das reichen? Zweifel sind berechtigt.

Glücklicherweise stand zuvor immerhin noch ein vierzehntägiges Trainingslager auf Fuerteventura auf meinem ursprünglichen Plan, den ich mir für den IRONMAN in Frankfurt vorgenommen hatte. Das macht mir Mut. Im Trainingslager bin ich dann diejenige, die fast schon panisch, an die gemeinsamen Trainings-Kilometer der Gruppe immer noch eine extra Runde auf dem Rad oder laufend dranhängt. Denn in meinem Kopf haben sich die Sätze, die im Internet kursieren, eingebrannt: „Die Rad- und Laufstrecke in Utah gilt momentan als eine der schwersten Strecken…“. Die Strecke ist so neu, dass sich niemand aufgrund von Erfahrungsberichten anderer ein Bild machen kann. Hinzu kommen klimatische Bedingungen von eiskalt bis wüstentrocken.

Zurück aus dem Trainingslager findet mein Training zumeist wieder im Keller statt. Das hört sich schrecklicher an als es tatsächlich ist. Sehr gut ausgestattet mit einer Spiegelwand, Gewichten, einem Laufband und einem Smarttrainer fürs Rad. Der „Trainer“ regelt dabei die Intensität über den Widerstand und lässt mich dementsprechend die Höhenmeter sofort in den Oberschenkeln spüren. So spule ich Kilometer um Kilometer runter, ungeachtet vom südhessischen Wind und Wetter draußen vor der Tür. Zwei Trainingseinheiten mindestens am Tag. Eine Radeinheit vor- und eine Laufeinheit nach der Arbeit, dazu noch Krafttraining und natürlich abends noch ins nach wie vor ungeliebte Schwimmtraining.

Die Sache mit dem Schwimmen

Immer mehr Technik, immer mehr Zubehör, um die Technik auch richtig ausführen zu können. Was heißt denn eigentlich richtig und reichen die kurzen Sprinteinheiten, um mich für einen 3,8 Kilometer Wettkampf vorzubereiten? Und was ist mit dem Schwimmen im Neoprenanzug? Natürlich sollte ich auch irgendwann mal ins Freiwasser. Aber jetzt? Unmöglich! Alle Seen sind noch geschlossen und irgendwo in unbekannte Gewässer zu gehen, um zu Schwimmen, das traue ich mir nun wirklich nicht zu – auch nicht mit eigener Schwimmboje. Aber vielleicht lernt man Schwimmen ja auch mit dem Kopf? Also schaue ich mir während meines Rollentrainings YouTube-Videos über Eiswasserschwimmen an und ziehe anschließend am Zugseil. Doch ich fürchte, die fehlende Technik lässt sich auch durch Kraft nicht ausgleichen. Man muss die Technik üben, man muss sie trainieren, perfektionieren. Meine Trainerin im Schwimmverein ist eine Trainerin der alten Schule. Sie lässt nichts durchgehen und sieht alles. Oft würde ich am liebsten untertauchen und erst wieder auftauchen, wenn das Schwimmtraining beendet ist. Aber wieder an der Oberfläche angekommen, hat sie mich ja sowieso gleich wieder am Wickel. Ich erzähle also meiner Schwimmtrainerin von meinem kurzfristigen Vorhaben und stoße zunächst auf Unverständnis: „Ich verstehe nicht, warum man sich das antut.“ Nach einiger Überzeugungsarbeit: „Ich WILL doch nur mal versuchen vier Kilometer am Stück zu schwimmen und schauen, ob ich das überhaupt noch kann und wie es sich anfühlt“, hat sie Einsehen und ich für eineinhalb Stunden eine 50 Meterbahn ganz für mich alleine – der pure Luxus.

Die Sache mit dem Radtraining

Dann entdecke ich sogar noch eine weitere ideale Vorbereitung, und zwar auf FulGaz. Das ist eine IRONMAN Indoor Cycling Plattform und hier wurde brandneu die Originalradstrecke in Utah eingespielt. So kann ich mir ein Bild von der Strecke machen, während es draußen mal wieder regnet. Ich nehme mir also vor, die 90 Kilometer an einem Samstag zu fahren und die restlichen 90 Kilometer am Sonntag darauf. Verrückt, ich fahre Rad auf den Straßen von Utah zwischen all den roten Bergen aus Sand, und mein Ventilator steuert den passenden Gegenwind bei. Wow! Es geht hoch und runter. Mein Kilometerschnitt ist unterirdisch langsam, aber was soll’s. Ich kann nicht aufhören, ich ziehe die komplette Radstrecke dann doch bereits am Samstag durch. 5:50 reale Stunden für 177 virtuelle Radkilometer mit 2.103 virtuellen Höhenmetern mit einem Schnitt von 30,3 km/h.

Damit ist klar, es wird schön – schön und hart. Schneller und effektiver kann man sich fast nicht in die richtige Stimmung versetzen.

Die Sache mit dem Zucker

Auch mit der Ernährung wollte ich kein Risiko eingehen. Nach immerhin fast zwei Jahren Zucker-Abstinenz fürchte ich leider schlimmstes. Also bestelle ich im Internet einen Karton High-Performance Energie Gels. Training für meinen Magen und meinen Geschmackssinn die sich jetzt wieder an die konzentrierte Zuckeraufnahme gewöhnen müssen. Ob ich mich allerdings an den Geschmack von aufgewärmten, zähflüssigen Gummibärchen wirklich gewöhnen kann?

Und dann ist da ja noch die Sache mit Corona

Manchmal wollte ich nichts als in die Kissen heulen. Wir halten uns strikt an die Corona-Kontaktbeschränkungen, auch wenn es schwerfällt. Und dennoch, jederzeit könnte die Hiobsbotschaft kommen: Positiv! Quarantäne! Corona – das Damoklesschwert angesichts dessen, dass sich derzeit einer nach dem anderen in meinem Umfeld positiv gemeldet hatte.

Die Pandemie hat bereits Wochen vor unserem Abflug in unserer Familie stattgefunden und Spuren hinterlassen. Die Abstandsregeln schmerzen uns alle sehr, wenn Besuche von dem Enkelchen und den Eltern vorsichtshalber unmöglich werden. Von Bedürfnissen und Wünschen ganz anderer Art zu schweigen. Am Schlimmsten aber, sind die Personen, die mich mit meiner Vorsicht nicht ernst nehmen. Corona könnte alles noch im letzten Moment beenden. So wie bei der Profi-Triathletin aus Heidelberg, Laura Philipp, die zwei Tage vor ihrem Abflug auf Instagram schrieb: „Es ist ein Albtraum, Corona Positiv“. Sie wird sich die Weltmeisterschaft nur im Fernsehen anschauen können. Bitter!

Mit Spannung erwarteten Kay und ich auch das letzte negative Ergebnis des Schnelltests vor dem Abflug.

Erleichterung als wir tatsächlich im Flieger sitzen. Auch jetzt heißt es, bloß nichts falsch machen. Im Flieger dicht an dicht und Maskenpflicht während des kompletten Fluges. Kritisch betrachte ich jeden um mich herum, der auch nur die Nase aus seiner Maske hervor blitzen ließ. Jetzt sind es schließlich nur noch sechs Tage bis zur Weltmeisterschaft. Auf elf Stunden Flug, von Frankfurt nach Las Vegas, folgen Abläufe der Security Checks, denen wir uns unterordnen. Nochmal zwei Stunden später öffnen sich endlich die Türen am Airport – ich bin bereit für ein neues Abenteuer.

Von Las Vegas, Nevada nach St. George, Utah

Am Flughafen erwartet uns schon meine Tochter Natascha, mein Schwiegersohn Alexander und mein sieben Monate junges Enkelchen namens Kay Otto. Die beiden sind lässige Eltern und sind bereits seit zwei Tagen in Las Vegas. Natascha war schon immer sofort begeistert dabei, wenn es darum ging, mich bei einem Wettkampf zu unterstützen. So haben wir schon sehr viel gemeinsam erlebt und uns gegenseitig immer unterstützt. Dieses Mal wird es für uns alle eine neue Herausforderung werden. Denn ob das jüngste Crew-Mitglied darauf wirklich auch Lust hat? So als würden wir auswandern, geht es also ab mit großem Gepäck und rein in den überdimensionalen Mietwagen. Im Kofferraum unseres Familienvans befindet sich nun ein Fahrradkoffer, vier große Koffer, fünf Rucksäcke, ein Kinderwagen, ein Kindersitz, einen Sack voll Schnelltests und jede Menge Vorfreude.

St. George

Nur 90 Minuten und eine Babypause später sind wir am Ziel unserer Reise, St. George. Dieser Ort wird besonders von den roten Felswänden, den Canyons, und der im Ortskern beheimateten IRONMAN “M-Dot” Skulptur bestimmt.

Schon bei einem ersten flüchtigen Blick auf dieses, für Triathleten fast schon berühmte Monument, wuchs die Spannung auf die folgenden Tage noch weiter an. Mit dem Kunstwerk schuf die Stadt ein Wahrzeichen, das an die Stärke der Triathleten und die Schönheit der Region St. George erinnern soll. Nicht zufällig wurde diese vierseitige, dreidimensionale Skulptur, die die Triathlon-Disziplinen – Schwimmen, Radfahren, Laufen – als auch die Gemeinde, in der seit über zehn Jahren IRONMAN-Veranstaltungen stattfinden, in die Nähe der Ziellinie des Rennens installiert.

Das hat mich überrascht und zugleich beeindruckt. Denn es schreiben sich ja viele Triathlonveranstaltungen auf die Fahnen, sehr athletennah und überaus fan- und familienfreundlich zu sein. Hier in St. George wird diese Thematik jedoch greifbar. Durch eine Offenheit, die ihresgleichen sucht. Und das gilt für die gesamte Ausrichtung dieser Weltmeisterschaft.

Die chillige Atmosphäre auf der großen Rasenfläche vor der großen Tribüne, die Aufsteller der Siegerinnen und Sieger aus den Vorjahren, das große Merchandise-Zelt mit den schönsten Sportklamotten denen ich natürlich nicht widerstehen konnte und viel zu viel eingekauft habe, dazu die große Messe und meine Unterschrift als eine der ersten auf der Weltmeisterschaftsplakatwand. Aber, kann etwas noch herzlicher sein, als wenn deine Liebsten sich für einen Volunteer-Dienst beim Athleten-Check-In gemeldet haben?

Du dich bei deiner Tochter mittels Unterschriften offiziell für die Weltmeisterschaft registrierst

und dann von deinem Schwiegersohn das Athletenband ums Handgelenk gelegt bekommst?

Ich denke nicht und wir alle zelebrieren diesen speziellen Moment.

Die Suche nach Nahrung

Ist, so trivial es klingt, so eine Sache: Ich hätte mich vom Frühstück bis zum Abendessen locker nur mit Fast-Food vollstopfen können, alles in Mengen und fast überall schnell verfügbar. Aber um an Vitamin-Shakes, frische Gemüsepfannen oder Salate zu kommen, muss man schon ein paar Wege mehr in Kauf nehmen. Wenn du aber den richtigen Supermarkt gefunden hast, dann bekommst du auch die Rohkostplatten verzehrfertig im Kühlregal. Ein italienisches Restaurant ist schwer zu finden die Preise sind hoch und die Portionen klein. Was will ich also machen? So landete, wie schon das dritte Mal in dieser Woche, auch am Abend vor dem großen Rennen der überdimensionale Take-away-Black Bear Veggieburger mit fettigen und matschigen Süßkartoffelpommes in meinem Magen. Das gesündeste war daran war wohl nur das Blatt Salat und die Schreibe Tomate. Ich muss jedoch gestehen, ich habe alle drei mit Heißhunger gegessen.

Raceday

Den letzten Burger am Hotelpool verspeist und noch nicht verdaut, schüttete ich mir um drei Uhr morgens die von zuhause mitgebrachten Chiasamen in mein Müsli, trinke eine Tasse Kaffee dazu und schaue dabei ungläubig auf meine extra für diesen Anlass einmalig tätowierten Arme.

Noch fünf Stunden bis zum Start und bereits 1000 Kalorien vor Sonnenaufgang. Es wird Zeit, ich muss los. Kay und Natascha fahren mich mit unserem Leihwagen zu den Shuttlebussen. Es ist noch stockdunkel als ich mich von den beiden verabschiede und ich allein in einen der bereitgestellten typisch gelben Schulbusse steige.

Die Fahrt zieht sich. Das Brummen des Dieselmotors mischt sich mit dem Gebrummel der Athleten in dem Bus. Als wir Aussteigen ist von dem See noch nichts zu sehen, aber die 3.359 Athleten beleben den Platz vor dem See wie bei einem Open-Air-Festival. Von überall sieht man das Aufblitzen der Kopf- und Taschenlampen. Räder werden aufgepumpt, Getränke in die Flaschenhalter gesteckt und alles nochmal und nochmal gegengecheckt. Interviews mit den Profis geführt und die gestählten Körper mittels Bewegung auf Temperatur gebracht.

KUMUKAHI: Origin, beginning or occasion of any thing

Gänsehautfeeling. Die amerikanische Flagge weht im Wind. Alles ist stumm, selbst der gestern noch sturmgepeitschte See, als Tony Duncun, ein Musiker der First Nations, seine Rede und sein Flötenspiel beginnt. Er ist ganz bei sich, wenn er sich in seinen Gebetslied bei den Ureinwohner Utahs, bei den Paiute, den Schoschonen, auch der Danae und der Navajo, auf dessen Land wir stehen, bedankt. Er ehrt die Gewässer, die Berge, die Erde. Er bedankt sich für das wunderbare Geschenk des Lebens, den Aufgang der Sonne, den untergehenden Mond. Es ist noch immer dunkel, als kurz darauf die US-amerikanische Nationalhymne zelebriert wird.

Für mich gibt es jetzt nichts mehr zu tun. Auch mein Rad ist aufgepumpt und bereit für das Rennen. Die Dixie-Toilette habe ich schon zweimal aufgesucht, mein Neoprenanzug ist bereits bis über die Hüften angezogen und Vaseline ins Genick geschmiert. Jetzt gibt es für mich nichts mehr zu tun, außer Warten. Knapp 150 Minuten! Ich setze mich zwischen die großen Ufersteine und schaue auf das noch dunkle und ruhige Wasser des Sand Hollow Reservoir.

Eindeutig viel zu viel Zeit zum Grübeln: Schaffe ich die 3,8 Kilometer oder raubt mir, als Asthmatikerin, das Kältebad den letzten Atem? Statt der Vorfreude auf das Neue und Unbekannte triumphiert das Déjà-vu. Wie beim IRONMAN 2013 in Lake Tahoe, als wir bei eisigen Temperaturen ins Wasser stiegen, die Mittagssonne heiß und es in der Dunkelheit wieder kalt wurde und ich im Ziel vor lauter Schüttelfrost nicht mehr warm wurde. Damals hatte ich mir (und meiner Familie) geschworen, so etwas nie wieder zu tun – Gedanken des Grauens. Schluß mit dem Gedankenkarusell. Heute wird es vor allem eine Herausforderung an mich selbst. Die Lufttemperatur liegt bei acht Grad Celsius, die des Sees bei etwa 15,5 Grad und wärmer wird es jetzt auch nicht mehr. Womit ich bei meinem eigentlichen Problem bin: Wer sich mit Asthma auskennt, der weiß auch, dass kaltes Wasser der beschränkende, wenn nicht sogar der Showstopper eines jeden Schwimmers sein kann. Einfach aus Sicherheit oder auch für den Notfall stecke ich mir das Asthmaspray vorne in meinen Neoprenanzug. Selbst die Profis tragen heute einen Neoprenanzug, einmalig bei einer Weltmeisterschaft!

Die Ruhe wird nur durch die Rotorblätter des Hubschraubers unterbrochen. Für die Profis ist der Startschuss gefallen und hinter den Bergen geht langsam die Sonne auf. Es ist eine dieser Situationen, in der ich gedanklich zurück in die Vergangenheit reise. Niemals hätte ich es vor zehn Jahren geglaubt, wenn mir jemand diese Szene vorhergesagt hätte.

Schon vor dem Wettkampf trage ich Gold!

Die Gruppen der Altersklassen unterscheiden sich durch die Farbe ihrer Badekappen. Für mich gibt es heute Gold. Darauf meine Startnummer und die Aufschrift: IRONMAN WORLD CHAMPIONSHIP. Das ich hier am Start einer Weltmeisterschaft stehen darf ist schon etwas ganz Besonderes und das wird mir gerade jetzt erst so richtig bewusst. Mit 59 Jahren habe ich nicht mehr viel Zeit für Chancen. Auch wenn man mal ein nicht so erfolgreiches Jahr hat, muss man sich dennoch vor Augen führen, wie privilegiert man ist, gesund zu sein und damit seine große Leidenschaft noch immer auf diesem Niveau ausleben zu können. Und dann noch an diesem besonderen Ort, der als das „Land der Ausdauer“ bezeichnet wird – darin liegt meine Chance auf ein Happy End.

Ich versuche mich abzulenken und gehe noch einmal auf Entdeckungstour, und zwar jenseits unserer Athleten-Bubble und treffe auf einen freundlichen Volunteer von gestern beim Rad-Check-In. In der verdammt langen Wechselzone wurde ich von einem Helfer zur nächsten Helferin begleitet. Alle waren extrem freundlich und hatten motivierende und anerkennende Worte für mich. Bei der letzten Station angekommen, bedankte ich mich und erklärte meiner persönlichen Helferin, wie sehr ich von der Motivation und Gastfreundlichkeit aller beeindruckt bin. Sie erwiderte nur kurz „Thats is Utah!“ und winkte mir fröhlich hinterher.

Ich staune nicht schlecht, dass es in dem sonst abgetrennten Athletenbereich keinerlei Trenngitter zwischen uns und den Zuschauern gibt. Nichts. Gar nichts. Titelfavorit neben Underdog, Athleten neben Freunden und Familie. Endlich, da sind sie ja! Ein Stein fällt mir vom Herzen. Irgendwie war ich schon sehr einsam hier unter den tausenden anderen Athleten. Ich freue mich wie wild als ich Natascha und Kay noch einmal vor meinem Start drücken kann.

 

Es ist 6:25 Uhr und die ersten Altersklassen-Männer ziehen bereits los. Und die Frauen? Wir sind dazu verdammt zu warten. Davon kann man nun halten, was man möchte, manche Männer finden es erstmal witzig, die Frauen nur teilweise.

Von dem Massenstart hat sich IRONMAN schon lange verabschiedet. Im sogenannten Rolling Start laufen nur fünf Athleten gleichzeitig ins kühle Nass, fünf Sekunden später die nächsten Fünf, und immer so weiter.

Über zwei Stunden später wird es dann endlich auch für mich Zeit. Und ich muss feststellen, dass ich doch alt geworden bin. Nach Altersklassen gruppiert sollen wir uns aufstellen. Die Helfer stehen nebeneinander und strecken dabei ein großes Holzschild in die Höhe. Darauf stehen die Altersklassen wie zum Beispiel bei mir F 55 – 59. Mir ist es egal, ob Frau oder Mann, jung oder alt, dick oder dünn. Hier aber sind die Rollen neu verteilt und noch auf die Spitze getrieben. Direkt vor mir stehen die AK F 40, 60, 70, 35, 30 und hinter mir die AK F 50, 25, 18 + 45 danach kommt niemand mehr. Ein schrecklicher Gedanke: Das wird wohl ein einsames Rennen für mich werden.

Im Schlepptau des Schildträgers schreitet mein Altersklassengrüppchen von 52 Ladys gemächlich in die Arena Richtung Wasserlinie. Ein bisschen erinnert mich das an den Einlauf der Gladiatoren im alten Rom. Da wir uns schon länger am Sammelplatz befinden, haben sich schon Couples gebildet, was so viel bedeutet: Man geht miteinander in die Arena, aber was nach der Show passiert, wird sich zeigen.

Das Reservoir an in schwarzen Neoprenanzügen gestylten Schönheiten unterscheidet sich kaum voneinander. Ich schaue zu Boden. Von der Neoprensocke bis zu bunten Fußnägeln ist alles vertreten. Jedoch gibt es eine Sache, die wirklich unattraktiv macht: mein leuchtend orangefarbenes Neoprenhäubchen, welches ich aus Schutz vor Kälte unter meiner goldenen Altersklassen-Badekappe verstecke. Aber mein schwarzer hautenger Ganzkörperanzug trägt immerhin das Bild eines gelben Sägefisches und ich fühle ich mich unter Meinesgleichen wie als Superheldin verkleidet. Irgendwie sind wir das ja auch: Superheldinnen. Soll die Kälte doch ruhig kommen, ich bin bereit.

Ready? Yes!

Ich sprinte nicht einfach so ins eiskalte Nass, auch wenn es uncool aussieht, gleite ich Schritt für Schritt hinein, atme ein paar Mal tief ein und aus und so wie ich mir das vorgenommen habe, beginne ich mit zehn kräftigen Brustzügen. Jegliche Art der Schnappatmung versuche ich zu vermeiden, versuche die Atmung bewusst zu kontrollieren – also Zähne zusammenbeißen und langsam und gleichmäßig atmen.

Kalt?! Nee, geht. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass sich inzwischen die Wassertemperatur durch die vor mir gestarteten Männer und Frauen auf biologische Weise erhöht hat? Doch den Gedanken verwerfe ich besser schnell. Die Entscheidung, eine Neoprenkappe unter der goldenen Badekappe zu tragen, ergibt Sinn, denn über den Kopf geht die meiste Wärme verloren. Ab 200 Meter aber wird es aber dann doch noch so richtig kalt. Meine Zehen und Finger werden eisig. Das bleibt bis zum Ende, ich muss es aushalten, bin hochkonzentriert, achte auf jedes Signal meines Körpers, bis ich einen Schlag abbekomme. Die Ladies um mich herum pflügen wie Eisbrecher durch das Feld. Klingt wenig kameradschaftlich, doch das ist ein Rennen mit einer Distanz von 3,86 Kilometer. Leicht angeschlagen ziehe ich um die nächste Boje. Denn ich weiß genau, wenn ich hier rauskomme, dann werde ich auch ins Ziel kommen!

Paddle-Boards, Kajaks und Wasserskiboote, die sonst Wakeboards oder Wasserskiläufer hinter sich herziehen gleiten ruhig und entspannt neben uns durchs kühle Wasser. Sie konzentrieren sich vornehmlich auf uns Schwimmer, leisten erste Hilfe an Bord oder retten unterkühlte Athleten ans sichere Ufer – die Boote mit der Kamerabesatzung sind mittlerweile schon anderweitig eingesetzt. Allzu oft erlebe ich jedoch, dass diese Boote, durch das Laufenlassen des Motors, meine Atemwege noch zusätzlich belasten – heute nicht! Und dann diese Perspektive. Eine rote Felsenlandschaft, blauer Himmel und der Schwimmausstieg vor rosafarbenen Dünen. Das Sandloch hat meine Erwartungen mehr als übertroffen.

Mission Eisbaden beendet!

Nach 1:26 Stunden spüre ich endlich wieder Sand unter meinen Fußsohlen. Ich bin so stolz auf mich wie schon lange nicht mehr – mein Rennen im Kopf habe ich schon gewonnen. Am Ufer warten schon die Stripper. Echt jetzt, denkt vielleicht so mancher. Vor mir werfen sich Schwimmer freiwillig den Strippern vor die Füße. Diese greifen beherzt zu und zack, schon ist die Neopelle von der Haut gezogen. Ich laufe schnell vorbei und suche mir im vollen Wechselzelt erst meinen Wechselbeutel und dann einen freien Stuhl.

Jetzt heißt es: schnell abtrocknen, den nassen Anzug ausziehen und in den Renneinteiler einsteigen. Mist, die Luft im Zelt ist feucht und so bleibt das enge Ding an meiner Haut kleben. Warum ich mich nicht entschieden habe diesen einfach schon unter dem Neopren zu tragen? – Ganz einfach. Alle Starter haben eine völlig andere Außentemperatur erwartet. In meinem Wechselbeutel habe ich eine dicke Jacke, Ärmlinge ja sogar Handschuhe bereitgehalten. Jetzt bin ich mutig und lasse sogar meine Socken weg und steige barfuß in meine alten ausgetretenen Radschuhe.

Hektisch den Anzug und das restliche Schwimmzubehör in die Tüte gestopft, zugeschnürt und beim Herauslaufen aus dem Zelt mit einem Schwung in die Wechselbeutelzone geworfen. Den Service des Sonnencremeeinschmierens lasse ich aus und laufe weiter und weiter, bis ich in den richtigen Gang zu meinem Rad hineinlaufe.

Wie Perlen an einer Schnur, bedeckt von einer dünnen Schicht aus Staub und Sand, hängt mein Rad abfahrbereit neben den Rädern der Konkurrenz. Ganz ehrlich, so sehr mir hier manche Triathlonräder gefallen, ich bleibe meinem Rennrad treu. Ohne Scheibenrad, ohne Wattmesspedale. Ja, ich verzichte sogar auf eine elektronische Schaltung, fahre heute einfach nur nach Gefühl und mit meiner Erfahrung. Ohne Tacho oder Navigationssystem, ohne Trittfrequenzmesser, ohne Brustgurt, ohne Socken und sogar ohne Startnummer! Letztere muss, anders als in Deutschland, erst beim Laufen getragen werden.

Es lässt sich schwer beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn die Cleats in die Pedale klicken und der Jubel der Zuschauer dich aus der Boxengasse trägt. Es ist immer eine Mischung aus Furcht und einem gepflegten “Geil!”. Der allgegenwärtige Kummer bezüglich meines Asthmas rückt bereits in den Hintergrund, obgleich Luft, dass heißt, ein gutes Lungenvolumen auf einer Radstrecke von 180 Kilometern und 2.265 Höhenmetern, die damit als eine der anspruchsvollsten bei IRONMAN Rennen gilt, wohl ein nicht zu vernachlässigender Faktor bleiben wird.

Kaum losgefahren, wird es auch schon langsam, denn es geht in die erste leichte Steigung hinein. Ich lasse mich nicht von den anderen zu einem schnelleren Tempo verleiten. Wie oft verleitete mich schon die Starteuphorie zu einem viel zu hohen Anfangstempo. Ich spare mir die Energie lieber noch auf. An manchen Stellen ist der Straßenbelag vergleichsweise rau, an anderen wiederum wunderbar glatt. Jedenfalls bin ich glücklich auf Kay gehört zu haben und mit 6 Bar auf den Reifen fühle ich mich sicher.

Ein kurzer Blick auf ein Straßenschild mit der Aufschrift Las Vegas / Salt Lake City und mir wird dabei so richtig klar, wo ich mich mit meinem Rad gerade so herumtreibe. Ich kann die nächste Kuppe schon sehen. Die Sonne brennt mir beharrlich auf den Buckel. Kein Schatten auf 180 Kilometern! Verrückt, oder? Radfahren durch die rote Wüste Utahs, in einer Wohlfühlkulisse aus hoch aufragenden Felsen, strahlend blauem Himmel, üppig blühenden Kakteen und leuchtendend blauen Seen.

Schwergewicht trifft auf Leichtgewicht

Boom! Schneller als gedacht fuhr ich auch schon um die nächste Kurve und sehe wie unglaublich viele Teilnehmer hier an der überholfreundlichen Strecke bereits ihr Rad schieben. Was heißt Rad? Das sind meistens schon keine Räder mehr. Rennboliden oder Showbikes wäre der passendere Ausdruck. Schwergewicht trifft auf Leichtgewicht. Und damit meine ich leichte Tri-Bikes treffen auf schwere Fahrer. An den Anstiegen sieht es jedes Mal so aus als führen hier Zeitfahrspezialisten, sprich Radprofis in Zeitlupe den Berg hoch. Für mich ist es ein besonderer Moment, ich überhole und überhole. Ich überhole mit meinem chancenlosen Material. Ein Überholvorgang wird deshalb von manch einem Teilnehmer eventuell schon mal als Herausforderung wahrgenommen und mit einem Angriff pariert. So geht das Meter um Meter. Mal bin ich eine Radlänge vorne, mal ein anderer. Es geht um das Übliche: Meistens sind sie männlicher Prägung und mit nur einem einzigen Gesichtsausdruck ausgestattet, der mir sagen soll: „Du mit deinem blonden Zopf wirst nicht an mir vorbeifahren“. Meine Nackenmuskulatur versteift sich augenblicklich, ich hole tief Luft und schalte nicht nur mental einen Gang runter.

Vielleicht kann es mir jemand nachempfinden, ich genieße diesen langen Anstieg jedenfalls außerordentlich und versuche durch höfliches Ignorieren dieser Kraftverschwendung aus dem Weg zu gehen. Aber ich frage mich: Was bringt das? Denn wer auf dem Rad überpowert, wird spätestens beim Laufen leiden. Manchmal ist weniger eben deutlich mehr und Leichtgewichte sind hier klar im Vorteil.

Wie auf einer Schiffschaukel

Es ist jetzt alles wieder so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Mein Körper läuft auf Autopilot, mein Kopf aber darf nicht abschalten. Während sich andere Verzweifelte um die drei kleinen Klohäuschen nahe jeder Verpflegung drängeln, hoffe ich auf die nächste Abfahrt. Gleichzeitig treten und dabei Pippi machen, skandalös? Doch während es bei dem ein oder anderen Leser hier vielleicht bei Empörung bleibt, bin ich schon viele Meter weiter. Mit einer Wasserflasche abgespült hinterlässt das auf meinem Anzug oder Sattel keine Spuren und Salz habe ich eh schon keines mehr in meinem Körper. Zumal ich ohnehin schon seit Stunden versuche mittels Wasserflaschendusche meinen Körper an jeder Verpflegungsstelle abzukühlen. Die trockene Luft, die auftretenden Böen sowie der Fahrtwind trocken innerhalb kürzester Zeit vollkommen ab. Warum ich so was mache? Weil ich es kann! Aber tatsächlich erspart es mir auch Zeit und Nerven und es ist auch gar nicht so einfach, nach so einer kurzen Pause wieder in den Tritt zu kommen, schon mal gar nicht, wenn es nach einer Verpflegung meistens gleich wieder aufwärts geht. Die Radstrecke ist wie ein Schiffsschaukel: Steigungen und Gefälle in stetigem Wechsel – flach ist hier nichts. Seit Stunden bin ich schon so fokussiert, und fahre förmlich mit Tunnelblick. Das Drumherum nehme ich zwar wahr, es interessiert mich jetzt aber nicht mehr. Ich klebe am Lenker, werde eins mit meinem Rad.

Snow Canyon National Park

Ich bin die letzten Stunden und Höhenmeter klug gefahren und habe noch dementsprechende wache Beine und genügend Kraft um hier wieder Plätze gutzumachen. Die Einfahrt in den Snow Canyon State Park ist wie eine eigene Welt und gilt als Schlüsselstelle des gesamten Rennens.

Hier weht Wind, hier ist es heiß, hier geht es nochmal richtig hoch. Trotz seines Namens soll der Park wohl eher selten schneebedeckt sein. Übrigens, der Park ist nach L. und E. Snow benannt, Pionieren aus Utah, nicht nach dem weißen Niederschlag. Dafür tragen die vielen dornigen Schönheiten am Straßenrand rosafarbene Blüten. Rund sechseinhalb Kilometer geht es immer nur bergauf durch den Park. Die Straße ist sehr gepflegt und zu beiden Seiten gibt es zahlreiche Haltebuchten und Parkplätze, von denen aus man die unberührte Natur des Snow Canyon bewundern kann – heute habe ich dafür keine Zeit.

Drei Tage vor dem Rennen habe ich mir diese jedoch genommen. Und dabei war ich so überwältigt, dass ich gleich zweimal hoch und wieder hinunterfuhr. So konnte ich die Einzigartigkeit der Strecke genießen, dabei mein Rad auf alle Funktionen testen und ein Picknick in einer der Parkbuchen war sogar auch noch drin.

Roter und weißer Navajo-Sandstein, hier und da von schwarzem Lavagestein überzogen. Die hoch und rot aufragenden Sandsteinfelsen geben einem das Gefühl ganz klein zu sein. Einige dieser Schluchten waren Schauplätze von Hollywood-Western wie „Butch Cassidy und Sundance Kid“. Wen die Radstrecke bis hier noch nicht an seine körperlichen Grenzen gebracht hat, den wird es spätestens jetzt erwischen – jeder wird hier leiden, haben sie gesagt. Und so kommt es auch.

Am nördlichen Ende des Canyons führt die Straße am Whiterocks Amphitheater vorbei und damit auf die steilste letzte Viertelmeile. Meine Kurbel dreht schnell und trotzdem bin ich so unendlich langsam unterwegs. Dennoch nicht langsam genug um die hier lebende Tierwelt vielleicht doch nur mal, nur ganz, ganz kurz zu Gesicht zu bekommen: Der Utah Banded Gecko, das Gila Monster (eine Krustenechsenart), ja selbst die langsame Wüstenschildkröte sind längst hinter den roten Felsen verschwunden. Aber ich freue mich auch an dem Anblick der vielen bunten Wüstenblumen.

Oben auf dem letzten Anstieg ankommen, genieße ich das Geschaffte. Ich freue mich auf den Adrenalin-Rausch beim Abfahren und endlich wieder Tempo spüren zu können. Heißer Wind bläst mir entgegen. Der Ehrgeiz meine eigene Abfahrtszeit zu verbessern, ist jedes Mal ungebrochen. Und zeitgleich habe ich einen fetten Kloß im Hals, wenn ich in geduckter Haltung die Abfahrt mit über 70 Stundenkilometern herunterrausche, um im nächsten Moment, ausgelöst durch eine heftige Böe, das Rad aus tiefer Schräglage wieder fest in den Griff bekomme.

Ich spüre, wie eine angenehme Wärme durch meinen Körper gleitet. Über sieben Stunden! Schon über sieben Stunden?? Ich frage mich wo die letzten Stunden geblieben sind. Es ist so wunderschön hier und ich könnte am liebsten weiterfahren, ich fühle mich noch richtig gut. Aber da sind schon wieder Kay und Natascha. Beim Anblick der beiden bin ich von so großer Freude erfüllt, dass ich sie am liebsten mit ihnen teilen will. Ein Cocktail aus Glücksgefühlen gibt mir einen regelrechten Kick und in diesem euphorischen Zustand steige ich an der Dismount-Line vom Rad. Ein sogenannter „Bike Catcher“ nimmt mir euphorisch das Rad ab und ich laufe, zugegebenermaßen etwas hüftlahm, in die zweite Wechselzone.

Ich schnappe meinen Wechselbeutel und setze mich auf den weißen Plastikstuhl. Im Wechselzelt fühlt es sich so an, wie das Leben eines Rennfahrers beim Boxenstop. Ich staune nicht schlecht als ich eine große Kelle Eiswürfel in meinen Ausschnitt geschüttet bekomme, so schnell konnte ich gar nicht mehr reagieren. Sooo kalt und sooo gut!! Meine persönliche Volunteer macht Druck. Man könnte gerade glauben, sie will mich so schnell wie möglich wieder loswerden. Sie hat Recht. Ich schütte meinen Beutel vor mir auf den Boden aus. Ein kleines Plastikfläschchen rollt mir vor die Füße. Mein altes Ritual: Espresso mit viel Zucker am Vorabend vorbereitet. Wie gut der tut! Jetzt schnell in die Socken und Schuhe, den Visor auf den Kopf und nach 04:25 Minuten laufe ich immer noch ziemlich hüftsteif, aber erhobenen Hauptes auf die 42,2 Kilometer lange und mit 430 Höhenmetern nicht gerade einfache Laufstrecke.

Kaum losgelaufen geht es auch schon bergauf. Es ist kein Geheimnis, dass es hier im Süden von Utah heiß werden kann. Weit über 30 Grad, die Sonne brennt mir auf den Rücken und der Anstieg sieht aus wie einer ohne Ende. Da ich keinen Pulsmesser trage, versuche ich erst gar nicht zu laufen, sondern starte defensiv mit einem beherzten Walking-Schritt. Das ist auch gar nicht schlimm, denn mit diesem Plan bin ich in guter Gesellschaft und kann sogar schon den ein oder anderen überholen. Wenn ich heute beim Schreiben so darüber nachdenke, dann muss ich gestehen, dass ich mich nicht wirklich mehr an Details der Strecke erinnern kann.

Eines bleibt dagegen unvergessen: Aufgrund der extrem trockenen Bedingungen bin ich permanent durstig. So viel könnte ich gar nicht trinken, um meinen Durst zu stillen. Ich greife zu einer anderen Taktik: Eiswürfel in den Mund, eine Handvoll Eiswürfel in meinen Ausschnitt, einen Eiswürfel in die rechte und einen Eiswürfel in die linke Hand. So geht das Ritual von einer Verpflegungsstation zur nächsten. Meist sind bereits in kürzester Zeit alle Eiswürfel geschmolzen, nur die in meinem Oberteil halten komischerweise etwas länger. Nach 21 Kilometern nehme ich zusätzlich planmäßig eine Salztablette. Wenn ich an mir so herunterschaue, wird es dafür auch dringend Zeit. Weiße Salzkrusten zeichnen sich an meinem Anzug ab. So verfliegen die Stunden und Minuten ungelogen ratzfatz, ohne dass ich auch nur einen Hauch von der Umgebung mitbekommen hätte. Ich laufe tempo-mäßig nach Gefühl, meine Gedanken lösen sich von meinem Körper. Ich denke nur von Eiswürfel zu Eiswürfel. Zwischendrin Glück und Belohnungsgefühle beim Genuss der eiskalten (!) Cola. Es läuft einfach. Ich fange bereits an herunterzuzählen. Nur noch 14 Kilometer. Pah, meine frühmorgendliche Trainingsrunde. Nur noch 9 Kilometer. Pah, nur noch die kleinere Trainingsrunde. Das Stabilisationstraining der letzten Monate macht sich bezahlt. Ich falle im Körper nicht zusammen, kann über die ganzen Stunden die Spannung halten. Ich höre in mich hinein. Schmerzen? Schmerzen? Keine Schmerzen? Gar keine Schmerzen? Ich habe tatsächlich gar keine Schmerzen. Auch nicht in der Ferse, weswegen ich im letzten Jahr den IRONMAN in Frankfurt sogar noch absagen musste.

Es beginnt zu dämmern. Was ein Tag bereits hinter mir liegt. „Nice Pace!“, ruft mir jemand hinterher und ich halte es für ein Kompliment. Solche kurzen Begegnungen können sehr wohltuend und belebend sein, glaubt mir. Und sie wirken damit wie eine Art Motivationsschub. Ich bin ganz und gar im gegenwärtigen Moment. Keine Gedanken an Vergangenes, keine Sorgen über Zukünftiges, stattdessen das Gewahrsein des gegenwärtigen Moments. So geht’s bergab und ich genieße meine Umgebung, die Aussicht auf das St. George Tabernacle im Licht der jetzt untergehenden Sonne.

Das Ende naht

Nur noch fünf Kilometer ich nehme trotzdem noch ein Gel. Genieße diese Kilometer, auch wenn sie hart werden. Ich sehe so viele, die sich nun über die Strecke quälen. Sie tun mir leid. Ich male mir in Gedanken aus, wie ich mich im Ziel fühlen werde. Wie ich die große, schwere Medaille um den Hals gehängt bekomme, wie ich…

Plötzlich sehe ich mein Schwiegersohn Alexander mit Baby Kay. Der Kleine schreit was das Zeug hält, nur leider nicht um seine Oma anzufeuern, ich fürchte eher, dass er endlich ins Bett will – auch sein Tag startete früh und scheint noch lange nicht vorbei. Es zerreißt mir das Herz und ich lege wieder einen Schritt zu, von hier sind es ja auch nur noch wenige 100 Meter bis ins Ziel. Ich werde später nicht nur meinem Enkel davon erzählen können, mein Enkel war sogar dabei.

Welch ein Entree!

Sehr viel intensiver geht es wahrscheinlich nicht: Der Duft von Hotdogs und Burgern in der Nase, die M-Dot-Skulptur im Blick, der rote Teppich ausgerollt. Wie über einen Catwalk, mit grandioser Sound- und Lichtkulisse, schwebe ich an dem Give-Me-Five-Spalier der Extraklasse entlang. Nach 14 Stunden und 6 Minuten auf dem grandiosen Erlebnisparcours, ruft Mr. Riley auch meinen Namen.

Auch noch drei Stunden nach meinem Zieleinlauf heißt es noch für manchen Athleten: „you are an IRONMAN“.

Ziel

Am Schluss fühle ich mich zu gleichen Teilen ausgelaugt und hungrig nach mehr.

Ich suche mir einen Platz auf dem Rasen, dabei wird mir ein Popsicles angeboten. Eisschleckend genieße ich diese Stimmung um mich herum. Mit der Weltmeisterschaft in Utah wurde heute Triathlon-Geschichte geschrieben und ich war dabei. Es war der längste Tag, die kürzeste Nacht und ich habe alles richtig gemacht und morgen ist Ruhetag – zumindest was den Sport anbelangt.

Für mich ist ein Traum in Erfüllung gegangen den ich nie ganz aus den Augen verloren hatte, bei allen Steinen die einem in fast zwanzig Jahren Triathlon immer wieder zwischen die Beine geworfen wurden, gesundheitlich wie emotional. Wenn es nur danach ginge, hätte ich längst mit diesem intensiven Hobby aufhören müssen. Aber Sport ist ein Teil von mir, er treibt mich bis heute an. Ich bin unglaublich zufrieden mit dem, was ich tue. Und es erfüllt mich zutiefst, mein Glück mit meinen Liebsten, die immer wie auch jetzt in diesem Moment an meiner Seite stehen, dieses Glück zu teilen.

Am nächsten Tag finde ich wieder eine E-Mail von IRONMAN in meinem Postfach. Darin steht:

You Created IRONMAN History

Congratulations Andrea,
By all accounts, the 2021 IRONMAN World Championship race course was a challenge worthy of championship athletes, and you conquered it. we thank you for creating a historic and memorable IRONMAN World Championship. Your success is a thread in the great tapestry of IRONMAN Life.

We look forward to seeing you all at another race soon. Congratulations!
So wird es dann wohl sein. In wenigen Wochen schon, starte ich das zehnte Mal bei einem IRONMAN (zum siebten Mal in Frankfurt). Vernünftig ist das sicher nicht, aber es macht glücklich, und darauf kommt es doch an, oder?

Übrigens:

Zwischen Anne Haug (Startnummer 1) und mir (Startnummer 3454) liegt ein Altersunterschied von 20 Jahren und im Ziel eine Zeitdifferenz von 5 Stunden und 19 Minuten. 21,9 Prozent der Athleten erreichten leider nicht das Ziel.

Anne Haug wurde gesamt 2. Frau und verlor damit ihren Weltmeistertitel aus 2019. Ich wurde Weltmeisterschaft Altersklassen 12. von 40 (gestartet 52, ursprünglich gemeldet 67) die ins Ziel kamen. Damit fühle ich mich nicht nur als Finisherin, sondern als eine Gewinnerin.