Andrea Helmuth

Andrea Helmuth

IRONMAN Tallinn 2023

“Auch Träume können in Erfüllung gehen” 

 

Dieser Spruch hing als kleines Bildchen an meiner Kinderzimmertapete – das ist über 50 Jahre her. Damals gab es noch keinen Ironman und auch keine Ironman Weltmeisterschaft auf Hawaii. Dennoch begleitet mich dieser Spruch schon mein ganzes Leben.

 

Ironman ist kein Einzelsport – und schon gar nicht in unserer Familie. Als ich gemeinsam mit meinem Partner und heutigen Ehemann vor fast 20 Jahren mit Triathlon begonnen habe, hätte keiner geahnt, dass die besten Frauen und Männer ihrer Altersklassen nicht mehr gemeinsam in Hawaii an der Startline stehen würden. Aber auch privat ist bei uns seitdem viel passiert: Krankheiten, Unfälle, Beruf, Pandemie, haben uns und unsere Einstellung zum Sport geprägt. Denn mit der Zeit entwickelt sich nicht nur das Material, sondern auch die Träume und mit dem Wachsen der Träume wächst auch der eigene Druck.

“run to fun – like to bike – swim to win”. Das war nur ein Spruch von vielen, die auf zahlreichen alten Türen mit Sprüchen zur Motivation der AthletInnen entlang der Laufstrecke aufgestellt sind. Mich braucht an dieser Stelle nichts und niemand mehr zu motivieren. So groß ist der Abstand zur Zweitplatzierten. Nie war ich meinem langen Traum für die Qualifikation zur Weltmeisterschaft in Kona näher als in diesem Moment. „The Final Countdown“ dröhnt es aus den Lautsprechern auf meinem letzten Kilometer auf dem Weg ins Ziel. Und so kitschig es klingt, ist es für mich der finale Countdown, dessen glücklichen Ausgang ich mir zwar erhofft, der aber nicht unbedingt mehr zu erwarten war.

Genau vor vier Monaten fand ich mich plötzlich in der Notaufnahme wieder. In der Pneumologie sagte man mir unmissverständlich, dass ich in diesem Jahr besser keinen Wettkampf mehr machen sollte. Die zwar gefühlt überstandene Corona-Infektion hatte mich lahmgelegt – vier Wochen vor dem Ironman auf Lanzarote. Dort wollte ich nicht nur ins Ziel kommen, sondern mir auch endlich den Kona Slot holen. Auf Lanzarote hätte ich nicht nur finishen, sondern auch das Rennen gewinnen müssen. Nie fühlte ich mich besser vorbereitet und trainiert. Corona war nicht mein Problem, ich habe meinem Körper nach der Infektion jedoch nicht genug Ruhe gegönnt, wider besseres Wissen. Ich hoffte es würde schon gut gehen. Aber mein Dickkopf konnte meinen geschwächten Körper nicht überlisten. Ich wusste nämlich ganz genau, dass es nicht gesund oder schlau ist, sich selbst keine Ruhe zu gönnen. Schlau ist, die eigenen Grenzen zu erkennen, zu akzeptieren und Gelassen zu bleiben, auch wenn man sowieso weiß, dass die Welt sich auch dann munter weiterdreht, wenn wir nicht an der Startlinie stehen. Leichter gesagt als getan; dieses Loslassen und Auf-Sich-Acht-Geben, schon klar. Um aber noch mehr negative Gefühle abzublocken, redete ich mir ein, dass ich ja gar nicht mehr nach Kona wollte, außerdem war ich doch erst im vergangenen Jahr in Utah bei der Ironman World Championship. Und wird es nicht doch langsam Zeit sportlich kürzer zu treten? So sehr hatte ich mich auf die neue Altersklasse gefreut und dabei sogar fast vergessen, dass ein runder Geburtstag mit einer sechs vorne dran schon ein wenig erschreckend sein würde.

Die Wochen nach meinem Geburtstag vergehen zäh. Die Saison ist bereits in vollem Gange. Mit Hinblick auf ärztlichen Rat und familiäre Verpflichtungen entscheide ich mich der Langdistanz endgültig Lebwohl zu sagen. Schon oft stand ich genau vor dieser Entscheidung, um dann doch wieder an einer neuen, anderen, Startlinie zu stehen. Zum Glück steht meine Familie nicht nur hinter mir, sondern ermutigt und unterstützt mich wie es nur geht. Nach und nach spüre ich wie meine Fitness zurückkehrt und ich wage mich neue Pläne zu spinnen: Eine Mitteldistanz hier und eine Olympische dort? Dann fragen Freunde, ob wir „nur mal zum Gucken“ mit an den Walchsee kommen wollen. Da ist sie wieder, diese unbändige Freude an der Landschaft, der Bewegung. Ich habe mich gerne mitreisen lassen und bin an den Start gegangen mit der Absicht gesund ins Ziel zu kommen. Es lief gut, richtig gut. Euphorisch suche ich nach machbaren weiten Wettkämpfen – schon das erfüllt mich. Die 70.3 European Championship in Tallinn, das klingt nach einem machbaren und schönen Ziel. Tallinn ist nicht nur reich an Sehenswürdigkeiten, sondern würde auch unseren Reiseschatz bereichern, denn sie gilt als eine der schönsten mittelalterlichen Hauptstädte der Ostsee und die Altstadt gehört seit 1997 zum UNESCO Weltkulturerbe. Obwohl an der Küste von Estland gelegen, wird in einem See geschwommen, lese ich in der Ausschreibung. Die geografische Nähe zu Finnland deutet auf kühlere Bedingungen hin. Die Rad- und Laufstrecke wird als flach und schnell beschrieben. Und eine Volldistanz gibt es dort auch – obendrein noch mit einer der letzten Chancen für eine Hawaii Qualifikation in diesem Oktober. Mein Herz pocht schneller, ich denke nach, ich rechne nach, ich male mir aus… Das Absenden der Anmeldung zu diesem Rennen fühlt sich so gut und so richtig an. Ich habe wieder ein Ziel mit einem Datum. Viel Vorbereitungszeit bleibt mir nicht, aber ich will es versuchen.

Ironmanreisen sind für uns (nicht nur) ein Vergnügen. Sie bringen uns regelmäßig an den Rand des Nervenzusammenbruchs. Wer knapp 24 Stunden vor dem Einchecken an den Wettkampfort anreist, braucht Urvertrauen. Das dies so ist, habe ich mir nicht ausgesucht:Für den von mir geplanten Flug gab es keinen Platz mehr für meinen Radkoffer. Also Flug storniert und neu gebucht. Im Ergebnis heißt das, eine spätere Anreise und ein längerer Aufenthalt und das alles, damit der gelbe Kranich auch wirklich mein Fahrrad mitnimmt. Auf dem Lennart Meri-Airport in Tallinn gelandet, werden wir kalkweiß. Während die ersten Gepäckstücke auf dem Kofferband kreiseln, erhalte ich eine E-Mail von der Fluggesellschaft. Betreff: Important notification about your baggage. Wir sind in Tallinn und mein Rad noch immer im Flughafen in Frankfurt. Jetzt gilt es nicht die Nerven zu verlieren. Weil ich fest daran glaube, dass mein Rad noch kommen wird, hole ich meine Startnummer trotzdem ab. Kurze Zeit später stehe ich angespannt bei der Akkreditierung. Was dann aber passiert, heitert meine Stimmung auf: Eine Volunteers ruft laut durch den ganzen Raum „AWA Bronze is here“.

Mit großem Applaus bekomme ich unter anderem meine AWA-Badekappe überreicht. Ein Mitglied der Rennleitung beruhigt uns mit dem Versprechen: „Wir werden ein Rad für dich finden, oder du kannst dein Rad ausnahmsweise noch am Wettkampfmorgen einchecken.“ Diese großartige Stimmung sowie die aufmunternden Worte lassen mich positiv auf den nächsten Tag hoffen.

Die Nacht ist voller Fantasien. Zu den Standard-Horrorträumen (zu spät am Start sein, der Reifen platt), die vermutlich die meisten StarterInnen kennen, kommt jetzt noch ein real gewordener Albtraum hinzu. Alles andere als erholt, wachen wir am nächsten Morgen auf. Da wo eigentlich mein Rad stehen sollte, steht nichts. Allerdings erhalten wir jetzt die Nachricht, dass das Rad mittlerweile in Tallinn am Flughafen eingetroffen sein soll. Wann das Logistikunternehmen die Räder allerdings ausliefert, bleibt zunächst ein Geheimnis. Während Kay keine Möglichkeit unversucht lässt, an Informationen zum Verbleib des Rades zu gelangen, versuche ich konzentriert meine Wettkampfbeutel zu packen. Und wieder kommen die Gedanken: Das soll wohl so sein, wer weiß für was es gut ist. Dann kann ich eben nicht starten. Ein schriller Klingelton des Hoteltelefons holt mich schlagartig ins hier und jetzt: „What? My bike is here – here in the hotel?“ Überglücklich springe ich durch das Hotelzimmer. Der Stein, der da gefallen ist, hat man bis nach Hause fallen hören.

Denn auch zuhause haben alle mitgelitten. Zwei Stunden vor meinem Rad-Check-In Termin bauen wir das Rad zusammen. Mein Ironman-Abenteuer darf weiter gehen. Oder besser: es beginnt, jetzt wo ich mit meinem Equipment vollständig bin.

Schwimmen ist nicht unbedingt meine Königsdisziplin – unter anderem, weil sie mich permanent mit meinen eigenen Unzulänglichkeiten konfrontiert und darüber hinaus Improvisationskunst verlangt. In den letzten Wochen bin ich so viel geschwommen, wie noch für keinen Ironman davor. Ob es mich schneller macht, nein gar nicht, aber ich laufe beherzter ins Wasser und komme, so hoffe ich, weniger erschöpft wieder an Land.

Das Wasser ist frisch, angeblich 18,4 Grad und für mich als Asthmatikerin schon fordernd. Ich bin froh mich für das Tragen der Neoprenkappe entschieden zu haben. Unstrittig uncool. Die Coolness holt meine goldene AWA-Badekappe allerdings wieder raus. Etwa 90 Minuten später verlasse ich das kühle Gewässer. Dass ich erste Frau bin, kann ich noch nicht wissen, aber was ich weiß, ist, dass mir ziemlich kalt ist. Beherzt renne ich aus dem Zelt über die nasse und mit Maulwurfhügeln gespickte Wiese und sehe alle Räder meiner Altersklassen-Konkurrentinnen noch an der Stange hängen – das fühlt sich gut an.

Durchgefroren steige ich auf mein Rad. „Du bist erste Frau, mit nur wenigen Sekunden Vorsprung“, ruft mir Kay noch hinterher und ich trete kräftig in die Pedale. Nass tropft es von meinem Pferdeschwanz den Rücken hinunter; die Entscheidung Ärmlinge zu tragen war richtig.

Bereits wenige Kilometer später, mit der ersten kurzen Steigung und ordentlich Gegenwind, wird es bereits deutlich wärmer. Der erste Wendepunkt ist erreicht und ich spüre, dass mir die Strecke liegt und ich mich auf dieser sehr wohl fühle. Von meinen elf Ironman ist dieser der erste ohne nennenswerte Höhenmeter. Einen 30er Schnitt pro 60 Kilometer-Runde habe ich angepeilt. Das sollte ohne große Anstrengung machbar sein und sollten meine Kontrahentinnen mich überholen, so hätte ich noch genügend „Körner“, um dagegen halten zu können. Und tatsächlich genau zwei Stunden später fahre ich auf meine zweite Runde. Ich winke Kay schon von weitem zu, will wissen, wo ich im Rennen liege. Nur Sekunden später bin ich schon an ihm vorbeigefahren.

Es ist zu laut an dieser Stelle und ich kann nicht verstehen, was er brüllt. Noch immer erste Frau, aber mit wieviel Vorsprung?

An den Verpflegungsstationen halte ich nicht an. Meine eigene Verpflegung am Rad habe ich gut geplant und anderweitige Bedürfnisse löse ich auf meine Art. Die kommenden zwei Stunden „verfliegen“ regelrecht. Ich bin es gewohnt stundenlang im Sattel sitzend mit mir allein zu verbringen. Auch das kann man trainieren, dennoch freue ich mich gleich Kay wiederzusehen. Ich kann ihn schon von weitem erkennen und mache mit den Armen wild fuchtelnd auf mich aufmerksam. Diesmal höre ich, was er mir zuruft – und ich muss schmunzeln. 50 Minuten Vorsprung.

Das ist gut. Allerdings kein Grund, um die Beine hängenzulassen. Dafür habe ich schon zu viel erlebt. Vielleicht erwischt mich noch ein Platten oder mir wird übel. Schon zu oft musste ich in früheren Rennen den Schwimmrückstand auf die Führenden mit dem Rad wieder zufahren. Ich weiß um meine Stärke auf dem Rad, allerdings kostet das auch sehr viel Kraft, Kraft die mir später auf der Laufstrecke meist gefehlt hat. Aber heute läuft es wie es soll, bis plötzlich, kurz vor Ende der dritten und letzten Runde, ein Insekt in einen von zwei Lüftungsschlitzen meines Helmes fliegt. Ich spüre wie das Tier, oberhalb der rechten Augenbraue, schmerzvoll zusticht. Es pocht auf der Haut und dem darunter liegenden Schädelknochen. „Du Vieh wirst mir mein Rennen nicht verderben“.

Lieber konzentriert sich der Schmerz auf meine Stirn als später beim Laufen auf die Füße. Schon erkenne ich die ersten Gebäude am Ortseingang von Tallinn wieder. Gleich haben mein Rad und ich es wieder geschafft. Während einige AthletInnen noch auf ihre letzte Radrunde geleitet werden, heißt es für mich abbiegen Richtung Zielkanal. Genau auf der Dismount-Linie lege ich eine Vollbremsung hin. Ein kurzer Blick auf den Tacho: 180 Kilometer und ein 30,01er Schnitt. Das hat Spaß gemacht. Ich kann mich an kein Rennen erinnern, an dem ich verhältnismäßig so entspannt vom Rad in Wechselzelt gelaufen bin. Meinen, wie immer vorbereiteten, Espresso aus dem Wechselbeutel gönne ich mir beim Schnüren der Schuhe, denn ich weiß was jetzt noch auf mich zu kommt. Die 42,2 km lange Strecke ist eine permanente Begegnungsstrecke über vier Runden und mit vier Verpflegungsstationen. Nach etwas mehr als dreieinhalb Minuten bin ich bereits auf der Laufstrecke.

Kay steht bereits am Anfang der Strecke, ich freue mich ihn zu sehen und ich freue mich auch über das, was er mir zuruft: „Du hast 90 Minuten Vorsprung“.

Mit dieser Nachricht im Kopf laufen die ersten zehn Kilometer wortwörtlich locker und fluffig. Die fehlenden Laufumfänge im Training machen sich dennoch nach und nach bemerkbar. Die Oberschenkel brennen und ich reduziere meinen Kilometerschnitt ganz bewusst. Bei Kilometer zwanzig plane ich einen ersten Toilettenstopp und eine kurze Abkühlung mit kaltem Wasser in meinem Gesicht.

Mit jeder Runde trifft man immer wieder auf die gleichen Gesichter, manche erkennt man am Trikot andere bereits am Laufschritt. Meine direkten Konkurrentinnen sind jedoch wie Geister. Außer ihren Rädern bekomme ich sie nie zu Gesicht – selbst bei der Siegerehrung lassen sie mich allein auf dem Podium stehen. Heute läuft es so ganz anders als am Abend zuvor angenommen und schon leider zu oft erlebt.

In meiner Vorstellung würden wir uns auf dem engen und viermal zudurchlaufenden Begegnungskurs mit scharfem, verbissenem Blick immer wieder in die Augen sehen und keine von uns würde dabei auch nur einen Meter nachlassen.

Ich habe den unbändigen Wunsch, dieses Mal ganz oben auf dem Podium zu stehen. Mit jeder Runde vergrößert sich mein Vorsprung: 120, 150, 160 Minuten. Längst habe ich realisiert, dass mein Traum heute wahr werden wird, und ich genieße dieses großartige Gefühl.

Nach 12:24:34 Stunden und bald drei Stunden Vorsprung, überquere ich die Ziellinie und falle kurz darauf Kay lachend und heulend zu gleich in die Arme.

Ich bin nicht erschöpft, ich bin einfach nur glücklich. Glücklich meinen Traum niemals aus den Augen verloren zu haben.

Und mir wurde eine Menge klar, über mich, mein Leben, meine Wünsche.

Nur eines konnte ich mir nicht beantworten: Warum? Was ist so faszinierend daran? Das werde ich hoffentlich bald wissen, bis dahin werde ich die Vorfreude darauf und das Training bis dahin mit jeder Faser genießen.