Andrea Helmuth

Andrea Helmuth

Lech Formarinsee / Spullersee 2015

Mountainbiken in Lech am Arlberg; Ort der unbegrenzten Möglichkeiten

 

Von Montag bis Freitag bin ich ein Sitzsack. Am Wochenende und im Urlaub will ich mich bewegen! Und zwar in jedem Urlaub. Für einige wäre es wohl die Höchststrafe. Ich mache es freiwillig. Wirklich! Ich komme aus dem südhessischen Flachland, da gelten Autobahnbrücken bereits als Berge und somit als Kampfansage an die Oberschenkel. Die richtigen Gipfel, die liegen in weiter Ferne.

 

 

Vom Frühstückstisch bei Sonnenschein auf die (Schotter)Piste – so angenehm startet man in der Pension Daniel in Lech am Arlberg. Mein Mountainbike-Guide wartet schon. Der Plan: Für mich als Rennradfahrerin und hoffnungsvolle Nachwuchsmountainbikerin, die sich heute zum ersten Mal mit dem Mountainbike in die Höhen der Berge wagt, soll die Route mir an Technik nicht zu viel abverlangen, darf mich konditionell aber durchaus fordern. Zwar kann man wohl fast nirgends als sportbegeisterter Naturliebhaber solch großartige Erlebnisse haben wie im Gebirge, jedoch stellt das Unternehmen Biken manch eine Partnerschaft auf eine harte Probe. Kluge Partner, die ihre Partner (-innen) für eine Mountainbike Tour in der Bergwelt begeistern und ihre Nerven schonen wollen, wählen entweder ein E-Bike (geht gar nicht. Anm. d. Autors) und/oder nehmen Daniel mit der sich mit seiner freundlichen, sympathisch zurückhaltenden Art den Bedürfnisse seiner Kunden anpasst. Er kennt die geeigneten Touren und weiß, wann eine Kaffeepause beeindruckt.

Locker rollen wir durch Lech in seichten Wellen zu unserem ersten Ziel für heute: dem Formarinsee. Anfangs begegnen uns auf der Asphaltstraße noch Wanderbusse, dann verändert sich der Weg in eine moderat abfallende Schotterpiste, ohne Verkehr.

IMG_2015-08-24_Lech Formarinsee Spullersee_500-333_005_IMG_4778

Die bald erreichte Baumgrenze motiviert auf den ansteigenden Höhenmetern. Plötzlich sehen wir zwei kleine Murmeltiere vor ihrer Erdhöhle alles überwachend, nur scheinbar blind oder abenteuerlustig.

IMG_2015-08-24_Lech Formarinsee Spullersee_500-333_006_DSC_0632

Die kurzen Pfoten vor dem Körper haltend, können wir uns vorsichtig bis auf wenige Meter nähern.  Die süßen Kleinen schauen neugierig aus ihrer guten Stube in unsere Kamera. Dann, ein lang anhaltender, durchdringender Pfiff aus einem anderen Unterschlupf und weg sind sie, das war so nicht vereinbart. Man merkt, es wird bald Herbst. Schon jetzt liegt eine gewisse Ruhe über der Natur. Und ich genieße sie. Denn ich leide unter „Lärmverschmutzung“! An meinem Wohnsitz jogge ich eingequetscht zwischen Großstadt und Flughafen und statt Vogelgezwitscher wecken mich die Düsen der Flugzeuge die im Minutentakt über unser Haus hinwegdröhnen. Aber hier: Kuhglockenkonzert – Fleckvieh im Weideglück. Hörgenüsse einer Hörgeschädigten. Die Stille ist hörbar und sichtbar: Vor der Kulisse des Rockelskopf beobachten uns die Kühe.

IMG_2015-08-24_Lech Formarinsee Spullersee_500-333_001_DSC_0754

Gelangweilt stopfen die Veganer ihre Mäuler mit dem satten Gras. Am Morgen- und Abend werden sie von den Kindern, die auf beinahe zweitausend Meter Höhe den Almsommer verbringen, zum Melken in die Ställe getrieben. Bei mir zuhause, auf ca. NULL Höhenmetern, treiben die Eltern ihre Kleinen mit dem dafür geeigneten SUV in die Kinderaufbewahrungsstätten.

IMG_2015-08-24_Lech Formarinsee Spullersee_500-333_007_IMG_4783

Kopf-hoch-sofort-Taktik

Um Schnelligkeit geht es uns heute nicht, sondern um Naturgenuss. Und wie könnte man das besser genießen als bei einer Tasse Kaffee in der Freiburger Alpenvereinshütte. Das nächste Ziel: Der Spullersee. Von der Hütte lassen wir es rollen, zurück in Richtung Formarinsee.

IMG_2015-08-24_Lech Formarinsee Spullersee_500-333_008_IMG_4798

Dann: Der Aufprall kam plötzlich, ein Sturz und ein heftiger Schmerz. Da hilft nur die „Kopf-hoch-sofort-Taktik“. Noch während des Sturzes laufen unbewusst Reflexe ab. Diese werden an das Gehirn weitergeleitet und entsprechend interpretiert. Das Resultat kann unterschiedlich ausfallen. Alles nochmal gut gegangen, das war knapp. Jedenfalls ist dem Wanderer, der mir ungebremst vor mein Rad lief, und mir, bis auf ein paar blauer Flecke, nichts passiert. Und wenn? Dann hätte ich mich in den besten Händen befunden. Daniel und Keanu, sein Lawinen- und Suchhund, sind Teil der Bergrettung Vorarlberg, sie alle Retten Menschleben, freiwillig und ehrenamtlich. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen kommt es immer wieder zu Unfällen. Wer unter Schneemassen begraben wird, dessen Überlebenschancen sinken im Minutentakt. Ich fühle mich gut aufgehoben.

IMG_2015-08-24_Lech Formarinsee Spullersee_500-333_009_IMG_4807
Weiter führt die Tour zum Spullersee, teils an deren Staumauer entlang Richtung Ravensburger Hütte. Was für ein Panorama auf das Lechquellengebirge und die umliegenden Berggruppen.

IMG_2015-08-24_Lech Formarinsee Spullersee_500-333_010_IMG_4846

Gerade haben wir den Rastplatz am Stausee (1.827 m) verlassen, schon baut sich vor uns eine Steigung wie eine Hängematte auf und wir befinden uns in der Po-Ebene. Das ist die beeindruckende Perspektive von unten. Dieses flaue Gefühl, nicht so schlimm, dass ich erst gar nicht los fahre, aber schlimm genug, um sich im Zeitlupentempo, nach oben zu kämpfen. An der Nordkante der Roggalspitze wagen sich Kletterer auf anderem Wege nach oben. Ich drücke die Pedale, wie beim Ski-Laufen mit einer sauberen und bewussten Hoch-Tief-Bewegung. Fast geht nichts mehr. Ich komme gerade noch aus den Klickpedalen bevor mich das letzte Quäntchen Kraft verlässt. Tief durchatmen. Der Körper zittert, das Herz rast. Ein Tiefblick zurück auf den Spullersee.

IMG_2015-08-24_Lech Formarinsee Spullersee_500-333_011_IMG_4862

Das Steinhaus des Alpenvereins schmiegt sich wie gemalt in die atemraubende Landschaft. „Da komme ich nie hoch“, meine Energiereservekammer ist auf das wildeste geplündert. Dann höre ich nur noch meinen Atem, der langsam und gleichmäßig geht. Wieso schnaufen meine beiden Betreuer nicht? Leben die noch? Wie lange kann man eigentlich ohne ausreichend Sauerstoffversorgung überleben? Nach der Ravensburger Hütte sind 2.009 Meter und der höchste Punkt der Tour erreicht. Schlagartig wird mir klar, dass die Mountainbiker sich erstmal Mut antrinken müssen, bevor sie sich hier am Stierloch Joch Downhill von dem Steilhang in die Tiefe stürzen.

IMG_2015-08-24_Lech Formarinsee Spullersee_500-333_012_IMG_4871

Fassungslos, frustriert stehe ich oben. Mit den Skiern wäre das meine Abfahrt, jetzt aber versagen angesichts der Steilheit des Hanges die Nerven. Und nun auch noch das: Man stelle sich nur mal vor, da kommen zwei optisch sportlich wirkende Mittdreißiger, die elegant entspannt die Pedale bewegen und von der Beschleunigung der hochgezüchteten E-Bikes auf den Sattel gedrückt werden. Rivalität drückt sich in immer stärkeren und schnelleren E-Bikes aus. Ich versuche cool und gelassen zu wirken, während ich mir vorstelle, was bei einem Sturz von diesem Hang alles passieren könnte. „Den Po hinter den Sattel“; die Oberschenkeln brennen. Ich fokussiere die Strecke, will die Balance finden, mutig sein, und….ich steige ab! Von unten schaue ich mir das Biest nochmal an, das mich gerade besiegt hat. „Jetzt wo Rad fahren schon nicht mehr ehrlich ist, da schiebe ich doch lieber“, denke ich noch und beobachte wie die beiden E-Biker den Rückzug antreten. Es gibt eben noch Gerechtigkeit. Am Ende siegt das Konglomerat aus Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit. Nach einer kurzen „Schiebepassage“ wage ich mich wieder aufs Rad.

IMG_2015-08-24_Lech Formarinsee Spullersee_500-333_013_IMG_4881

Die tolle Abfahrt entlang des wildromantischen Bachlaufs nach Zug und Lech will ich mir dann doch nicht entgehen lassen.

Wir sind da. Die 1.200 Höhenmeter und 40 Mountainbike Kilometer waren perfekt. Zum Andenken nehme ich den blauen Fleck, groß wie eine Kartoffel, mit nach Hause. Grund genug wieder zu kommen, zum Üben! Nach der Tour gibt mir Daniel den aufgezeichneten Track und seinen Arlguide-Flyer, der Lust macht sofort wieder in die Berge aufzubrechen. Die Nachmittagssonne dringt kaum mehr durch die Wolken. Zeit nach Hause zu fahren. Der Angstschweiß ist längst getrocknet. Einmal mehr habe ich ein atemberaubendes und spannendes Wochenende erlebt. Man muss ja nicht alles machen – kann aber. Bei mir hat es das Gefühl ausgelöst, dass es ewig weitergehen könnte. Aber wie heißt es so schön: all good things come to an end.