Andrea Helmuth

Andrea Helmuth

Les foulées Veauchoises

Non, je ne regrette rien!

 

Für einen kurzen Moment will ich die Startnummer zurückgeben und nie wieder den Fuß auf französisches Terrain setzen. Unauffällig schiele ich zu den beiden Mitläufern. Ob sie alles beobachtet haben? Haben sie. Von wegen Integration und Chancengleichheit. Eine Stunde und neunundvierzig Minuten später reiße ich die Arme nach oben und laufe glücklich als schnellste deutsche Läuferin durch den Zielbogen! Keck könnte ich sagen: Ich hatte nichts anderes erwartet. Man kann das in Gesprächen lässig einfließen lassen und sich wohlig in der Anerkennung der Anderen für diese körperliche Strapaze sonnen. Oder man erzählt wie es wirklich war und nimmt das Mitleid in Kauf.

 

Nach mehr als 12 Jahren fühle mich als gebürtige Frankfurterin in Neu-Isenburg mittlerweile nun auch mit einem Offenbacher Nummernschild zu Hause. Es ist eine schöne Stadt. Wenn man beispielsweise im Garten sitzt und den Flugverkehr am Himmel beobachtet, dann geht das Herz gleich wieder auf die Reise. Ich packe also gerade mal wieder meinen Rucksack, diesmal für einen Ultralauf im Torres des Paine Nationalpark von Patagonien, als der überraschende Anruf kommt: „Herzlichen Glückwunsch! Sie waren beim Hugenottenlauf 2014 auf der Halbmarathonstrecke schnellste Isenburger Läuferin. Die Sieger auf der zehn Kilometer und der Halbmarathon Strecke bekommen eine Einladung vom Förderverein Städtepartnerschaften und europäische Begegnungen Neu-Isenburg. e. V. (FSP) und dürfen Neu-Isenburg am 5. September 2015 beim „Les Foulées Veauchoises“ in Veauche vertreten.“

Das ist Wahnsinn – völliger Wahnsinn

Das Verlangen die Einladung anzunehmen juckt in den Füssen. Rundenläufe sind für mich nichts Außergewöhnliches. 3 x 7 Kilometer = Halbmarathon. Dafür also sollte ich mehr als 1.500 Kilometer mit dem Auto fahren? Michael Zervas, der zweite Vorsitzende vom FSP, wird mich begleiten. Veauche befindet sich etwa 70 Kilometer südwestlich von Lyon. Läuferische Neugier brachte mich schon weit um die Welt. Und als wollte ich aller Welt zeigen, wie sehr ich doch im alten Revier unterfordert war (nach wenigen Wochen wusste ich,  wo die toten Tiere lagen und wann die Bahnschranke auf der Buschschlagrunde geschlossen wird), teste ich als rasende Reporterin fortan neue Laufstrecken und Events. Mit jedem Laufschritt sammle ich neue Erfahrungen und Geschichten. Mittlerweile sind es deutlich mehr als 100 Halb-, Marathon- und Ultraläufe – ich habe aufgehört zu zählen. Unglaublich, es wird das erste Mal sein, dass die Sohlen meiner Laufschuhe französischen Boden betreten. Allein schon der Gedanke an die französische Sprache, Froschschenkel und Schleimschnecken auf fettiger Kräuterbutter steckt fest in meiner Klischeekiste und löst Grausen aus. Dabei ist der deutsch-französische Freundschaftsvertrag mein Geburtsjahrgang und das allein ist schon Argument genug, endlich einmal über die Nachbarschaftsgrenze zu blicken, um zu sehen, wie der Franzose wirklich so tickt. So anders. Einem charmanten „Bonjour Andrea, Willkommen in Veauche“, folgt ein beiderseitiges Wangenküsschen von Manuel, dem Président des Veauche Jumelages, dessen Frau Pascal, Anne und Bruno, unsere Gastfamilie für die nächsten zwei Tage, sowie Martine. Schon die Begrüßung ist ein Hauch von Zärtlichkeit, weichherziger als bei den Deutschen, deren oft feuchtzarter Händedruck Blutleere und Emotionslosigkeit ausstrahlt. Aber genug der Sentimentalitäten.

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Große Aufgaben warten auf Erledigung

Bereit für Epochales sitze ich am Frühstückstisch meiner Gastfamilie und nehme eilig ein Heldenfrühstück zu mir. Kaffee und Croissants, Gesprächsfetzen. Unsere Köpfe stecken in einem zehn Zentimeter dicken Übersetzer, wir trällern verbal Ping-Pong. Das Radio spielt, wie passend, Édith Piaf. Alles könnte perfekt sein, nur ein klitzekleines Problem wirft einen schwachen Schatten auf meinen Start. Ich bin mein eigenes Team, quasi der heimische Trumpf. Als Langstreckenläuferin bin ich zwar „Best Ager“, aber qualifiziert mich das auch als (Lauf-)Vertreterin Neu-Isenburgs? Die wilden Zeiten sind doch schon länger vorbei, oder? Mit einer Laufzeit von 1:48:53 h wurde ich 2014 beim Halbmarathon 6. von 28 Frauen in meiner Altersklasse. Eine fortgeschrittene Altersklasse, die allein schon doppelt so viele Läuferinnen zählt, wie heute der Lauf an Gesamtteilnehmerinnen. Welche der Französinnen kennt wohl meine wahre Identität? Noch unter dem Startbogen „Ville de Veauche“ stehend weiß ich nur eins: Sie werden nicht aufhören, mich zu jagen!

Auch „kurze“ Läufe können wehtun

Veauche ist älter als Neu-Isenburg. Eine erste schriftliche Erwähnung erfolgt gegen das Jahr 1000. Weniger Häuser, weniger Einwohner, weniger Teilnehmer. Einfach alles eine Nummer kleiner, gemütlicher und … schlaftrunkener. Ich stelle mir vor, wie Bewohner, Familien und Freunde sowie Helfer uns zujubeln; gleichzeitig Kränze, Blumen und Süßigkeiten auf die Strecke werfen und beim finalen Zieleinlauf die Bande stürmen. Der Franzose jedoch bewegt sich am Wochenende nur schwer von seiner Chaiselongue, es sei denn, es ist Markt. Na gut, es könnte natürlich auch sein, dass sich der Franzose ausgerechnet jetzt etwas reduziert euphorisch zeigt, auch wenn die Stars von morgen schon heute zu sehen sind.

Eine Liaison

„Les Foulées Veauchoises“ hat keine spektakuläre Strecke, ist dennoch ein wenig mit dem Hugenottenlauf in Neu-Isenburg zu vergleichen. Von meinen vielen Läufen weiß ich, wie schnell die Franzosen laufen können. Der Kurs ist eng und wenn man nicht gleich seinen Rhythmus findet, hat man keine Chance mehr.

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Um schnell zu sein, muss man immer am Limit laufen. Draußen vor der Stadt gibt es einige bedeutende Stellen: Wiesen und Schottersteine. Wenn man dort einen Fehler macht, verliert man viel Schwung für die folgende lange Gerade. Sie ist kein Problem und geht mit Vollgas, wenn man, wie ich, direkt hinter einem Läufer im Windschatten hängt.

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Ein Läufer in sonnengelbem Trikot erbarmt sich meiner. Aber irgendwann erreicht man einen Punkt, an dem man trotz eigenem Tempomacher vom Running-Club VEAUCHOIS auf der geraden Chaussée mit dem neuem Trottoir, nicht mehr schneller wird. Mein „Hase“ mit kurzem und glatt frisiertem Haar schaut ungläubig auf die Uhr, scheint sich zu strecken, um noch mehr aus sich herauszuholen.

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Tapp, tapp, tapp. Ich klebe an seinem Hinterteil und den braun gebrannten Waden – Mon Dieu! Ich bleibe dran, nur sprachlich hinke ich etwas hinterher – aber doch nur, weil Schnappatmung eine Spaßbremse ist! Überholen reizt wie Juckpulver. Ich stürme voran, als könne ich es selbst kaum erwarten, mich ins Ziel zu befördern.

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Ohne einen Sieg in heimatliche Gefilde zurückzukehren wäre doch irgendwie unwürdig und einem Heldenstatus abträglich. Und so entschließe ich mich zu Handeln. Körperspannung, ich drücke die Schenkel nach vorn. Uff! Endlich ist die erste Runde geschafft. Und jetzt? Reicht die Kraft um die Zweite und Dritte im gleichen Tempo zu drehen? Aber was wäre die Alternative? Langsam rückwärts laufen, den staunenden Helfern freundlich zuwinken und dann etwa aussteigen? Nie und nimmer! Diese Schmach tue ich mir nicht an.

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Ich nehme Haltung an und ziehe durch. Geschafft – Ich bin im Ziel. Ohne Blumen und Kränze, aber mit einem Altersklassensieg! Mir fällt ein ganzes Baguette vom Herzen und ich muss lächeln. Nur einmal den Stadtbus vor Nase davonfahren zu sehen, etwa so viele Minuten liegen zwischen mir und der Gewinnerin. Du kannst niemandem vertrauen, nicht einmal dir selbst, weil man immer wieder überrascht wird. Non, je ne regrette rien!

Aprés Run

Man trifft sich, o là là, zum Aperitif. Noch habe ich beim Nippen am Pastis meine Muttersprache nicht ganz verloren. Im Wirrwarr des französisch-deutsch-englischen-Karaoke-Feuerwerks, das von mir noch nach dem Lauf großes Improvisationsgeschick fordert. Es werden viele Küsschen verteilt und viel Champagner.

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Erschöpft falle ich ins Bett. Dank der Initiative des FSP habe in jeder Beziehung gewonnen: Eine Lauf-Reise nach Veauche und viele neue Freunde. Einige werden uns schon bald besuchen um bei uns zu laufen, wie Gael Poissonnier der schnellste Veaucher auf der Halbmarathondistanz des diesjährigen „Les Foulées Veauchoises“.

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Im nächsten Jahr geht es weiter. Nachwuchsoptimierung! Die deutschen Läufer(-innen) werden dann in Veauche hoffentlich nicht mehr eine Minderheit sein. Potenzial haben die Neu-Isenburger Sportler allemal. Aber auch ohne zu Siegen kann man in Frankreich an den Start gehen. Bei Lauf-Interesse einfach an den Förderverein Städtepartnerschaften und europäische Begegnungen Neu-Isenburg. e. V. wenden, damit die junge Liaison zwischen dem Hugenottenlauf und dem „Les Foulées Veauchoises“ ganz selbstverständlich zu weiterer intensiven Freundschaft und Partnerschaft führen wird. Jeder Lauf ist eine Geschichte! Jeder Lauf ist eine Begegnung mit seiner Landschaft und deren Menschen!

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Jeder Lauf ist ein Treffen von Freunden. Auch dieses Mal bestätigte sich meine Laufphilosophie: „Laufen ist Abenteuer und Genuss“.