Shotover Moonlight Mountain Marathon 2018

Andrea Helmuth

Andrea Helmuth

Das Grinsen der Lämmer

 

„It’s very dangerous over there“, krächzt es aus dem Kopfhörer für den Fall, dass es mir entgangen sein könnte. Der Pilot zeigt auf die einst zur Erschließung der Claims spektakulär aus dem Fels geschlagenen Skippers Canyon Road. Die Straße gilt als so riskant, dass Mietwagenanbieter eine Versicherung verweigern. So ein Erlebnis hat man selten, jedenfalls nicht in Deutschland, jedenfalls nicht mit dem Gefühl, dass ein Helikopterflug nicht nur die schnellere, sondern auch die sichere Art der Anreise zu einem Marathonstart ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das kräftige Schlagen der Rotorblätter donnert durch die Finsternis. Ein Scheinwerfer wirft sein kegelförmiges Licht auf die kleine Gruppe Läufer. Ein unheimliches Schauspiel, das mir zum Frieren eine zusätzliche Gänsehaut verschafft.

Fern von Rucksacktouristen und Wohnmobilen, in einem weltfernen Versteck liegen um mich herum die Berge in einem milchig trüben Nichts – einem Grau, aus dem es unaufhörlich rinnt, wie eine Szene aus „Herr der Ringe“. Ich befürchte, dass der heftige Wind den Helikopter an den steilen Canyons zerschellen lassen oder mindestens seine Landung am Ufer des Shotover River unmöglich machen könnte.

Zum Glück spuckt mich der Hubschrauber jedoch zehn Minuten später unversehrt wieder aus. Unter dem regnerischen Morgenhimmel wird es langsam hell; gerade hell genug zur Orientierung. Zwischen zwei Felsen spannt sich die Pipeline Bridge schwindelerregend über den türkisblauen Fluss. Die Holzplanken sind rutschig, von ihrer Mitte blicke ich in die Tiefe. Mit 109 Metern war sie die ehemals höchste Bungee-Brücke der Welt.

Unter ihr düsen heute Jetboote durch engste Schluchten. Jetzt aber ist alles ruhig, nur das Gebrabbel der Läufer am gegenüberliegenden Ufer vermischt sich mit dem Rauschen des Flusses. Es ist Spätsommer in Aotearoa, dem Land der langen weißen Wolke, wie Neuseeland von den Maori benannt wird. Aus dem dunklen Winter in Deutschland endlich in helles Licht, wohlige Wärme und kurze Hosen – so meine Phantasie. In der Realität aber gießt es wie aus Kübeln und eisiger Wind fährt mir unter die Haut. Das Paradies ist nun mal nicht von dieser Welt. Was für ein Glück, dass zur Pflichtausrüstung auch eine Regenjacke gehört. Leichtsinnig: Wenn man nur eine dünne Windjacke dabei und eine kurze Hose anhat. Zwölf Zeitzonen entfernt läuft die Tagesschau – Couchzeit. Ob mein Körper begreift, dass er nun durch die für ihn auf Nacht eingestellte Zeit laufen soll?

Mit dem Zeichen zum „Go“ hat das Frieren endlich ein Ende. Es sind die Trampelpfade der Schafe, schmal wie die Spur eines Breitreifens, denen ich ins markierte Nirwana folge. „Caution steep bluff below“ warnt ein Schild. Wegloses Gelände, rasiermesserscharfe Grate, an dessen schroffen Wänden mein unbesorgtes Laufen mit atemloser Gewalt erstickt. Ein Zustand, der meine Aufmerksamkeit bündelt. Prompt rutsche ich beim Sprung über einen Felsbrocken ab. Der Einschlag bleibt aus. Nur zehn Zentimeter trennen mich vom Absturz, der an dieser Stelle bestimmt nicht sanft verlaufen wäre. Dann hilft nur noch die Bergung aus der Luft. Ich stütze mich am Fels ab. Zentimeterarbeit! Phantasien tauchen auf: was ist, wenn eben noch dahinsickernde Bäche innerhalb von Minuten zu reißenden Flüssen anschwellen und Felsgestein aus den Bergen nach unten geschleudert wird? Schnee und Eis…? Die Sinne gespannt, stoße ich auf die Requisiten des Goldrauschs der 1880er Jahre, neben denen heute die Palmen wachsen.

Streckenteilung am Murpheys Creek. Lang und steil ist der Aufstieg zum Longspur. Wie einsam und gigantisch das Farmland ist, zeigt sich vom höchsten Punkt des Trails. Soweit das Auge reicht, nichts als Berge und Täler. Es ist das Revier von 7.000 Merinoschafen auf dem Land der Forster Family, mit einer Fläche so groß wie Ingolstadt. Die Fernsicht am höchsten Verpflegungspunkt ist unglaublich. Ein Foto muss her! Über eine steile Flanke und einem spitzen Grad führt der Pfad über das Death Ridge, so ausgesetzt, dass ich beim Blick zurück staune, wie ich dort entlanglaufen konnte.

Auf dem Weg hinunter hat der Wind die Wolken fortgeblasen; der Regen kapituliert, die Sonne hat gesiegt. Ein warmer, böiger Wind bläst durch das Tussock Country.

„Scree, enjoy!“, steht auf einer Tafel. Wie eine schwarze Abfahrtspiste liegt die breite Gerölldüne vor mir. Happy springe ich hinunter in den dichten Regenwald.

Feinkörniger schwarzer Sand reibt peu à peu Blasen an meine Füße, bis diese unerträglich brennen. Cool wird es erst beim Sprung in die kalte Flut. Brusttief folge ich der Strömung mit dem guten Gefühl, schwimmen zu können. Dem Nass entronnen, ziehe ich mich die Uferböschung hinauf, um gleich darauf wieder im Schlamm zu versinken. Mit jedem Läufer, der das Ufer erklimmt, wird der lehmige Hang schmieriger und rutschiger. Sprosse für Sprosse hangele ich an einer Leiter hoch.

An den Ästen der moosbedeckten Bäume hängen die Flechten wie verfilzte Bärte. Das Getriller fremdartiger Vögel wird nur vom Rauschen des Wasserfalls und meinem Stöhnen überstimmt. Es ist nicht der Jetlag, der schwere Rucksack oder die mangelnde Kondition. Es ist die Innensohle meines Schuhes, rätselhaft verrutscht und bis vorne an die Zehen zusammengerollt. Mit jedem Schritt versucht die Fußsohle mit den Zehen zu kooperieren, um sie so zurück ins Fußbett zu zwingen, aber nichts passiert. Ich muss handeln: Schuh ausziehen, Sohle zurückziehen, Schuh anziehen. Kostbare Zeit vergeht.

Kilometerangaben, die mir sicher die noch vor mir liegende Distanz anzeigen würden, sind hier nicht vorgesehen. Wo eben noch moosige Erde den Schritt gefedert hat, begleitet Hitze meinen Weg zur ersten Verpflegung und erlöst mich von der Ahnungslosigkeit. Fast fünf Stunden für 21 Kilometer! „That’s horrible“, stöhnt ein Läufer als man ihm sagt, dass die Cut-Off-Kontrolle nicht hier sei. Im Schatten der Moonlight-Lodge spiegelt sich mein gequältes Ebenbild im Fenster.

Den letzten Bissen kaum geschluckt, die 50er Sonnencreme auf die rote Haut geschmiert, werden die nächsten vier Kilometer ein Rennen gegen die Zeit. Beim Aufstieg zum Razorback Ridge zwingen große Steine zu großen Schritten und kleine Frauen zu ganz großen Schritten. Oh, hätte ich doch bloß mehr Zeit in Kalorien investiert. 50 Minuten später erreiche ich das Gatter. Es teilt die Läufer, die sich außerhalb der Karenzzeit bewegen, wie Schafe in zwei Kategorien: die Guten und die Schlechten. Befreit laufe ich weiter über wild gezackte Höhenzüge, kahlgefressen vom Heißhunger wolliger Vierbeiner, hinauf zum Sefferstown Hill. Hier stoppt mich ein Zaun, über den ich klettern muss.

In der Sonne des vergangenen Sommers bleichen die Schädel von Wiederkäuern. Durch das Moonlight Valley geht es rasant hinunter nach Sefferstown und weiter zum Moke Lake. Ich hänge durch – wie die Sonne so tief. Mein Rücken benötigt Beistand, da hilft es wenig, dass der Weg hier gnädig flach verläuft. Obwohl merkwürdig, nehme ich den Rucksack mit der mollig, warmen Wäsche jetzt vor die Brust. Ich muss lachen: Heute Früh hatte ich Angst vor Unterkühlung und jetzt vor einem Hitzschlag. Gischt-spritzend springe ich dutzende Male in die kühlenden Fluten, wechsle die Ufer wie die Fahrspuren auf der Autobahn.

Mit Zehen die runzeligen Rosinen gleichen, laufe ich durchs Ziel.

Amüsiert betrachte ich mein Finisher-Shirt: Es ist mit weißen Lämmern bedruckt, die sich ein Lachen offensichtlich nicht verkneifen können. Mit einer Startnummer um den Bauch tänzeln sie leichtfüßig über Berge und Flüsse – was auch sonst?

 

 

Andrea’s Beitrag zu dieser Veranstaltung ist in Ausgabe 1/2019 des „Running“-Laufmagazins erschienen. Erhältlich am Kiosk und im Zeitschriftenhandel.